Leseprobe: „Ellings letzter Fall“

Kapitel 1: Ein neuer Partner

Mühsam kämpfte sich das Küstenstreifenboot der Wasser­schutz­­polizei durch die Fluten. Ziel der Fahrt war ein trei­bendes Schiff nahe der Küste. Wie ein Korken im Meer wippte der Kutter auf und ab. An der Seite des unbekannten Schiffs hatte die ›Arkona‹ angemacht. Auf dem Deck der Seenotretter erkannte Oberkommissar Sören Fries zwei Männer, die ihr Kommen beob­achteten. Die Regentropfen schmerzten wie unzählige kleine Glas­splitter, die auf seiner Haut einschlugen.

Fries sah zum Kollegen Elling rüber. Fest wie eine Eiche stand der neben ihm auf dem Deck. Der Blick des Hauptkommissars war stur gen Horizont gerichtet. Fries wünschte sich dieselbe Sou­veränität angesichts des Seegangs. Doch sein Magen empfand jede Welle als Angriff auf seine letzte Mahlzeit. Nur gut, dass Wegener immer noch nicht wieder vollends dienstfähig geschrieben war, dachte er. Dessen Magen hätte schon längst kapituliert.

Der Oberkommissar steckte sich einen Pfefferminzbonbon in den Mund. Manchmal half ihm dieser vertraute Geschmack über das Gefühl der Übelkeit hinweg. Doch dieses Mal hatte er nur wenig Hoffnung auf Besserung seiner Befindlichkeit. Schließlich waren sie nicht wegen eines Segelausflugs hier. Die Seenotretter hatten ein Tötungsdelikt gemeldet. Je nachdem, was sie gleich vorfinden würden, würde sich sein Magen einer zweiten Heraus­forderung stellen müssen.

»Und warum können wir das Schiff und die Leiche nicht im Hafen untersuchen?«, rief Doktor Pannwitt über die tosende See hinweg. Seine Gesichtsfarbe wirkte eher wie die Farbe von abge­standener Milch als die eines gesunden Rechtsmediziners, die seinen Teint normalerweise auszeichnete.

Elling zuckte mit den Schultern. Fries hatte sich schon dieselbe Frage gestellt. Allerdings bestand sein Hauptanliegen derzeit da­rin, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Er hatte die Beant­wortung der Frage deshalb als zweitrangig eingestuft.

»Hannes und Siggi wollten euch die Beweise nicht kaputt­machen«, rief der Kollege der Wasserschutzpolizei und deutete da­bei mit dem Kopf in Richtung der Seenotretter. »Die meinten das nur gut.«

Pannwitt zog die linke Augenbraue hoch. Der Forensiker Bernd Köster schmunzelte hingegen zufrieden.

»Dann hättet ihr das Boot doch sichern können«, rief Fries dem Steuermann zu und betonte dabei das Wort ihr.

»Ja, das hätten wir«, sagte der Wasserschutzpolizist. »Hätte nur nicht so viel Spaß gemacht.«

Der Mann am Steuer grinste. Auch Elling schien dieser Gedanke zu gefallen. Kurz funkelte so etwas wie ein Lächeln in seinem Ge­sicht auf. Doch schon eine Sekunde später richtete er seinen Blick wie­der stur auf den Horizont.

Der Motor wurde leiser. Nur noch wenige Meter trennten sie vom alten Kutter, auf dem sich der Leichnam befand. Jetzt konnte Fries auch den Namen des unbekannten Boots erkennen. Die ›War­­now‹ schaukelte sich zur ›Pauline‹ rüber und legte an.

»Moin, Sören«, rief einer der Seenotretter. »Willkommen an Bord.«

Fries kannte Hannes Jensen seit seiner Kindheit. Er hatte nie verstanden, weshalb sein Freund unbedingt zur See fahren wollte. Ihm hatte sich schon damals immer der Magen umgedreht, wenn er auf einem Boot war. Nur selten hatte es die launische Ostsee gut mit dem Oberkommissar gemeint.

Jensen half Fries an Bord der ›Pauline‹.

»Nicht der beste Tag für einen Bootsausflug.«

»Echt witzig«, sagte der Oberkommissar. Sein Gesicht war asch­fahl.

»War nicht meine Idee«, murmelte Jensen und deutete mit dem Kopf zum Kapitän der ›Warnow‹.

In dem Moment erwischte eine große Welle die ›Pauline‹ an Back­­bord. Der Oberkommissar schnappte sich das Erstbeste, was er greifen konnte: Hannes’ Rettungsweste. Gemeinsam mit seinem Freund schlitterte er auf die andere Seite des Boots.

»Das wird so nichts«, rief Fries zum Kollegen Elling auf die ›War­now‹ rüber. Pannwitt nickte zur Bestätigung so energisch wie ein Wackeldackel bei hundertachtzig auf einer Schotterpiste.

»Es ist zu windig«, schrie Fries weiter über den Lärm hinweg.

»Windig?«, fragte der Kollege der Wasserschutzpolizei. Sein Blick wanderte gen Himmel, der sich von Minute zu Minute dunk­ler färbte. »Jo. Das wird jetzt ganz schön ungemütlich.«

»Ich bleib bei Hannes.« Fries deutete mit den Händen an, dass er zwei Schutzanzüge samt Handschuhen brauchte. Köster warf ihm einen Plastikbeutel auf die ›Pauline‹ rüber, in dem sich mehrere weiße Einwegoveralls, eine Box mit Nitril-Schutzhandschuhen so­wie ein halbes Dutzend großer Folien befanden. Der Ober­kom­mis­­sar wusste, was er mit den Folien anstellen musste. Der Regen soll­te nicht alle Beweise wegspülen. Mit etwas Glück war es unter Deck noch trocken und die Ostsee würde ihren Weg nicht bis hin zu den Beweismitteln finden.

»Wir bringen die ›Pauline‹ jetzt erst mal in den Hafen«, rief Hannes auf das Schiff der Seenotretter rüber.

Der Kapitän die ›Arkona‹ signalisierte mit dem Daumen nach oben, dass die Nachricht angekommen war. Das Schiff legte ab und fuhr gemeinsam mit der Wasserschutzpolizei nach Warnemünde.

Knapp eine Stunde später tuckerte die ›Pauline‹ in den Hafen ein. Der Himmel hatte sich dunkelgrau gefärbt. Es schüttete, als würde die Welt untergehen.

Als sie neben der ›Warnow‹ anlegten, war die Straße am Strom men­­schenleer. Nur drei traurige Gestalten warteten mit Regen­schir­­men in der einen Hand und Koffern in der anderen auf das Eintreffen der ›Pauline‹.

»Da seid ihr ja endlich«, sagte Pannwitt. Sein Gesichtsausdruck sprach für sich.

Erstaunlich agil für sein Alter – Fries schätzte Doktor Pannwitt auf Mitte bis Ende fünfzig – sprang der Rechtsmediziner an Bord. Elling wartete, bis Hannes das Seil vertäut hatte. Dann folgte er dem Kollegen aus der Rechtsmedizin.

Köster sah auf Fries und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß«, sagte Fries »Ich tropfe.«

Der Forensiker grinste.

»Du kontaminierst unseren Tatort, wenn du da so reingehst.«

Als wäre das sein größtes Problem.

»Ich komm gleich nach«, sagte Fries deutlich angespannt. »Ich ziehe mir nur mal schnell was Trockenes an.«

Er deutete auf das Schiff der Wasserschutzpolizei. Die hatten hof­­fent­lich Ersatzkleidung an Bord. Fries wartete, bis Bernd Kös­ter unter Deck gegangen war, dann drehte er sich schnell zur Grün­­­­anlage hinter sich um. In einem großen Bogen verab­schie­de­te sich sein Frühstück von ihm. Wenigstens hatte das kei­ner gese­hen, dachte er, während er sich umsah und seinen Mund abtupfte. In dem Moment ertönte eine kantige Stimme hinter ihm.

»Warum machst du das nicht in die ›Warnow‹?« Der Kapitän des gleichnamigen Schiffs deutete auf die kleine Wasserstraße. »Da haben die Fische wenigstens auch noch was davon.«

Fries schüttelte innerlich den Kopf. Die Typen von der Wasser­schutzpolizei hatte er noch nie gemocht. Oft taten sie so, als wären ihre stählernen Mägen eine Superkraft, die sie über den Rest der Menschheit emporhob. Oder zumindest über die Leute, deren Ma­gen nicht seetüchtig war. Auch der Kollege vor ihm schien in diese Kategorie zu gehören.

»Nächstes Mal«, murmelte Fries.

Die trockenen Sachen lieh er sich dann doch lieber von den See­not­rettern. Fries zog sich einen Schutzanzug über den trockenen Pulli und die Latzhose und ging anschließend auf die geborgene ›Pauline‹. Als er unter Deck eintraf, beugte sich Pannwitt gerade über die Leiche und diskutierte mit Elling über die Verletzung.

»Ich kann noch nicht sagen, ob das ein Schnitt oder ein Stich war. Der Körper muss hier ja durch die Gegend gekullert sein wie eine Olive in einem Martiniglas.«

Elling richtete sich auf.

»Ist der Herr jetzt auch endlich da? Dann können wir ja an­fan­gen.«

Pannwitt grinste.

Es war Ellings letzter Fall, dachte Fries, während er noch einmal tief einatmete. Warum Bergmann auf die Idee gekommen war, aus­gerechnet den kurz vor der Pensionierung stehenden Kollegen für ein frisches Tötungsdelikt einzuteilen, konnte er nicht ver­ste­hen. Aber nun musste er sich seinem Schicksal fügen. Elling war sein Partner. Zumindest noch für ein paar Tage.

»Wie viele Wochen hast du denn noch?«, fragte Fries.

»Vier oder fünf«, antwortete Elling. »Wieso? Willst du mich loswerden?«

»Das wär auf hoher See doch viel einfacher gegangen«, sagte Pannwitt.

Elling lachte auf.

»Gut«, sagte Fries. »Offensichtlich ist das Bergmanns Ab­schieds­­geschenk für dich.«

»Hätte ich das gewusst, hätte ich eine Schleife drumgebunden«, sagte der Rechtsmediziner.

Doch dieses Mal lachte keiner.

»Unpassend?«

Elling legte den Kopf zur Seite.

»Der Gedanke zählt«, antwortete er kurz darauf und zwinkerte Pannwitt zu.

Das hatte Wegener also bei seinem ersten und letzten Fall mit Elling gemeint, als er vom Altherrenclub sprach, dachte Sören. Der Rechtsmediziner und der Hauptkommissar waren ein gut einge­spiel­tes Team. Das musste ja nicht unbedingt schlecht sein.

»Was haben wir bis jetzt?«, fragte Fries.

Über ihnen prasselten die Regentropfen wie kleine Geschosse auf das Deck, während Pannwitt die Vorstellung des Toten eröff­ne­te.

»Der Mann ist etwa zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt.«

»Papiere haben wir bislang nicht gefunden«, sagte Elling.

»Der Hafenmeister wird uns da weiterhelfen können«, bemerkte wieder Pannwitt.

Es ging hin und her wie bei einem Pingpong-Spiel.

»Eine Stichwunde im Bauch.«

»Die Tatwaffe steckte noch.«

»Ich schätze zwanzig Zentimeter.«

»Ein Sportmesser, so eins für Survival-Fans, nicht so ein dünnes Filetier­­teil für Schickimicki-Köche.«

»Das Messer war aber extrem scharf. Der Schnitt ist gut acht Zen­­timeter lang. Eher unsauber. Sieht fast wie ein Zickzackmuster aus.«

»War das der Täter?«, fragte Fries und fiel damit Elling ins Wort, der als Nächster an der Reihe gewesen wäre.

»Der Stich. Auf jeden Fall. Der Schnitt? Unwahrscheinlich«, sagte Elling. »Das wird der starke Seegang übernommen haben. Sein Körper wird hier hin und her gekullert sein.«

Pannwitt äußerte sich nicht dazu.

»Unser Opfer hat auf jeden Fall viel Blut verloren«, sagte er statt­dessen. »Der Täter hat genau die Aorta getroffen. Da hatte der Gute keine Chance mehr, ob mit Schnitt oder nur der bloße Einstich. Auch wenn es nicht auf See passiert wäre, er hätte es vermutlich nicht mehr lebend ins Krankenhaus geschafft.«

Fries sah sich in der Kajüte um.

»Und der Täter? Wo ist der geblieben?«

»Eine gute Frage«, sagte Elling. »Weißt du schon, seit wann er tot ist?«

»Wenn ich nur die Körpertemperatur zugrunde lege, dann ist er etwa zwölf bis vierundzwanzig Stunden tot. Genaueres …«

»… folgt, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte«, sagten Elling, Fries und Köster fast zeitgleich im Chor.

Pannwitt verzog das Gesicht.

»Hatte die ›Pauline‹ ein Beiboot?«, fragte Fries.

»Keine Ahnung«, antwortete der Forensiker. »Ein Schlauchboot vielleicht. Das solltet ihr mit dem Hafenmeister klären.«

Fries machte sich eine Notiz dazu. Normalerweise nahm Wege­ner ihm diese Arbeit ab. Er sah zu Elling, dessen Gedächtnis ver­mutlich so löchrig wie ein Schweizer Käse war. Dennoch schien es der Mann nicht für nötig zu halten, die noch zu klärenden Fragen aufzuschreiben.

»Kann unser Täter an Land geschwommen sein? Das Wetter war gestern doch noch ganz gut«, sagte Elling.

»Bei den Temperaturen?« Fries hatte seine Zweifel. Im April war die Ostsee noch keine Wohlfühlzone. Wassertemperaturen zwi­schen vier und sechs Grad hielt kein Mensch lange aus.

»Vielleicht mit einem Neoprenanzug? Wäre das möglich?«

Elling schien an seiner Theorie festhalten zu wollen.

»Möglich ist alles. Aber wahrscheinlich?« Pannwitt verzog das Gesicht.

»Wir sollten erst mal klären, ob es ein Beiboot gab«, sagte Fries.

»Und wenn die ›Pauline‹ nah an der Küste lag?«

Elling schien seinen Vorschlag nicht gehört zu haben. Oder der alte Mann war einfach nur ein Sturkopf. Fries war jetzt schon ge­nervt.

»Fünfhundert Meter schafft man sicher auch bei den Temperaturen. Oder, Pannwitt?«

Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern.

»Wie gesagt, möglich ist alles. Warum überprüft ihr nicht erst mal, ob es ein Rettungsboot gab? Dann können wir uns diese ganze Dis­­kussion schenken.«

»Spielverderber«, sagte der kurz vor der Pensionierung ste­hen­de Kollege.

»Oder unser Opfer hat sich mit seinem späteren Mörder auf ho­her See getroffen«, sagte Köster. »Der kam vielleicht mit sei­nem eigenen Schiff. Ach ja. Hier …«

Der Forensiker warf Fries einen Beweisbeutel mit einem Her­ren­portemonnaie darin zu.

»… habe ich gerade in der Ecke da hinten gefunden. Lag in der obersten Schublade.«

Fries öffnete die Brieftasche. Er beugte sich noch einmal zum To­ten rüber und las dann vor.

»Das ist Gerd Bösner. Geboren am 17.5.1962 in Wismar.«

»Neunundfünfzig«, sagte Pannwitt. »Dafür hat er sich gut gehalten. Bis auf diese Stelle da.«

Der Rechtsmediziner deutete auf die tödliche Verletzung in der Brust und zwinkerte Elling dabei zu. Dieses Mal grinste der Haupt­­kommissar nicht. Er beugte sich über die Leiche und betrachtete sie noch einmal eindringlich.

»Daher kenne ich dich also«, murmelte Elling leise.

Er nickte zustimmend und richtete sich auf.

»Wir kennen uns«, sagte er nun laut in die Runde. »Und ich weiß auch, wer ihn umgebracht hat.«

Die Männer sahen sich an.

»Und?«, fragte Pannwitt. »Weihst du uns in deine Erkenntnis ein?«

Elling grinste.

»Nö!«

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Nachdem der Regen endlich nachgelassen hatte, wurde der Leich­nam von Gerd Bösner abtransportiert. Elling und Fries fuhren zu­rück in die Polizeiinspektion.

»Und«, fragte der Leiter des Fachkommissariats. »Gibt es schon was zu berichten?«

»Elling hat den Fall schon geklärt«, antworte Fries, während er dem Kollegen hinterhersah, der den Flur entlangwackelte und has­tig seine Bürotür öffnete.

»Haben Sie den Namen Gerd Bösner schon mal gehört?«, fragte Fries den Ersten Hauptkommissar.

Horst Bergmann riss die Augen auf.

»Wen hat er umgebracht?«

»Wen er umgebracht hat? Wieso soll er jemanden umgebracht haben? Er ist das Opfer«, antwortete Fries.

»Oh«, entfuhr es Bergmann. Seine Stirn runzelte sich.

Der Hauptkommissar kam aus seinem Büro gestürmt.

»Hier«, sagte er zu Bergmann. Ellings Kopf hatte in den letzten Minuten die Farbe eines frisch gekochten Krebses angenommen.

»Hast du deine Pillen schon genommen?«, fragte Bergmann.

Elling schüttelte abfällig den Kopf.

»Cordula Milhahn.« Mit dem Finger deutete er auf die aufge­schlagene Seite in der Akte. »Wohnhaft in Schmarl.«

Bergmann sah seinen Mitarbeiter nachdenklich an.

»Sie war es«, sagte Elling. »Sie hat es doch quasi angekündigt. Sie würde es in die eigenen Hände nehmen.«

»Na dann, los«, sagte der Erste Hauptkommissar. »Schnappt sie euch!«

»Werde ich auch noch informiert?«, fragte Fries.

»Von wegen altes Eisen«, murmelte Elling. »So schnell hat hier wohl noch keiner einen Mord aufgeklärt.«

Irritiert sah Fries Elling hinterher, der mit der Akte unterm Arm zügig zum Ausgang trottete.

»Kommst du?«, fragte der Hauptkommissar, ohne sich umzu­drehen.

Bergmann grinste.

»Los! Sonst holen Sie Elling nicht mehr ein. Aber achten Sie auf ihn. Ich möchte nicht, dass er uns auf der Zielgraden noch um­kippt.«

Fries lief kopfschüttelnd seinem Partner hinterher. Nur noch wenige Wochen, dachte er.

***

»Erzählst du mir auch, wer die beiden sind? Ich meine unseren Toten und seine Mörderin. Woher kennst du Bösner?«

Sie saßen im Auto und fuhren zur Meldeadresse der vermeint­lichen Täterin. Elling hatte sein Tablettendöschen in der Hand und fingerte eine Pille heraus.

»Hast du was zu trinken?«

Der Oberkommissar atmete tief ein.

»Ja«, antwortete Fries genervt und deutete auf die Tasche hinter seinem Sitz.

Elling beugte sich nach hinten.

»Lass mich«, sagte Fries.

»Geht schon«, grummelte Elling. Beim Versuch, an die Was­serflasche zu kommen, sah er wie ein gestrandetes Walross aus.

Nachdem er seine Pille heruntergespült hatte, widmete Elling sich wieder dem Studium der Akte. Offenbar hatte der Kollege nicht vor, Fries an seinem letzten großen Triumph als Kriminal­haupt­kommissar des ersten Fachkommissariats teilhaben zu las­sen. Irgendwie konnte Fries das verstehen. In ein paar Wochen würden das Aufziehen von Rosenbüschen und die Ernte von Kar­toffeln im eigenen Garten die spannendsten Erlebnisse in Ellings Leben sein.

Die Wohnsiedlung im Kolumbusring war keine besonders schöne Gegend. Sie war auch nicht besonders hässlich. Sie war eben eine Plattenbausiedlung wie so viele andere auch, die Rostocks Stadt­bild prägten. Früher waren diese Bauten architektonische Vorzei­ge­objekte des sozialistischen Staates gewesen. Heute fristeten die ehemaligen Bürger des früheren Arbeiter- und Bauernstaates ihr Dasein darin. Die Hoffnung auf Wohlstand war für viele schon längst wie eine Seifenblase zerplatzt. Von der Politik im Stich ge­las­sen, arrangierte man sich mit den neuen Gegebenheiten.

Doch so unterschiedlich die Wohnungstüren aussahen, so unter­schiedlich waren die Geschichten, die die Menschen dahinter zu erzählen hatten. Der eine Nachbar passte sich an und zerbrach nicht an den neuen Idealen, die seit dem Mauerfall sein Leben bestimmten. Die Frau zwei Etagen darüber verpasste den Einstieg in das viel zu schnelle Leben im Kapitalismus. Für sie endete der Traum von Freiheit an der Tür zum Amt für Arbeit.

»Hier«, sagte Elling, während Fries noch die richtige Haus­nummer suchte.

»Du warst schon mal hier?«

Der Hauptkommissar nickte und stieg aus. Fries lief dem Kolle­gen wieder hinterher. Er hatte sich damit abgefunden, in diesem Fall nur das schmückende Beiwerk zu sein. Elling hatte das Kom­mando. Eigentlich gefiel ihm der Gedanke. Vielleicht konnte er sich so besser in Wegeners Situation hineinversetzen – der zwei­te Mann zu sein. Für ihn lag diese Erfahrung schon Jahre zurück.

Als sie am Haus ankamen, öffnete gerade ein junger Mann die Tür. Elling drängte sich mit dem Anwohner zeitgleich durch die Öffnung und grummelte dabei etwas Unverständliches. Dem Ton­fall nach zu urteilen, waren die Worte nicht freundlich gemeint.

Am Fahrstuhl wurde er endlich ausgebremst. Wenn Elling zwan­zig Jahre jünger gewesen wäre, hätte er vermutlich die Treppe genommen. Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere, wäh­rend er nach oben sah und den Fahrstuhl durch die Decke zu beob­achten schien.

»Was ist das für ein Gefühl?«, fragte Fries. »Ich meine, nur noch wenige Wochen und dann …«

»Scheiße ist das«, pöbelte Elling. »Glaubst du etwa, ich freu mich darauf? Was meinst du wohl, warum ich noch mal um ein halbes Jahr verlängert habe? Weil es so toll ist, jeden Tag mit euch Luschen abzuhängen?«

Die Fahrstuhltür öffnete sich ruckelnd. Elling schüttelte ver­ächtlich den Kopf und stieg ein. Die Kabine senkte sich ächzend un­ter dem Gewicht seines neuen Fahrgastes. Fries beobachtete die Szene. Etwas zögerlich warf er einen Blick auf das Baujahr des Aufzugs. Dreißig Jahre war alles gut gegangen.

»Und? Kommst du jetzt, oder nicht?«

Elling drückte den Knopf für den sechsten Stock. Der Ober­kommissar stieg ein.

»Meine Frau ist begeistert. Endlich mehr Zeit mit ihr.«

In einer knapp ein mal ein Meter großen Kabine, die nach allen möglichen Körperausdünstungen roch, fuhren sie ruckelnd in den sechsten Stock. Die Fahrtzeit fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

»Und, was sollen wir zusammen machen?«, meckerte Elling wei­ter. Fries bereute es, seinen Kollegen gefragt zu haben. »Wir sind vier­zig Jahre verheiratet … wir haben noch nie etwas zusam­men unternommen.«

»Ihr seid vierzig Jahre verheiratet?«

Elling nickte.

Endlich öffnete sich die Fahrstuhltür. Der Aufzug machte auch dies in gefühlter Zeitlupe. Das Ungetüm schien es zu genießen, dass man ihm nicht so schnell entkommen konnte.

»Deine Frau muss etwas Besonderes sein«, sagte Fries.

»Wieso?« Elling blieb abrupt stehen und drehte sich um. »Weil sie mit mir verheiratet ist?«

Der Oberkommissar verdrehte innerlich die Augen. Warum redete er überhaupt noch mit dem alten Griesgram?

»Nein … also … ich …«, stotterte er.

Elling lachte auf.

»Ja, ja, ich versteh schon.«

Er wandte sich wieder von Fries ab und ging weiter. Die Lampe im langgezogenen Flur flackerte. Das unruhige Lichterspiel wirkte wie ein Hilferuf des Hauses. Die Farbe an den Wänden platzte an vielen Bereichen ab. Zwischen den offenliegenden Stellen, an denen der Putz hervorschimmerte, hatten sich Jugendliche mit ih­ren Tags verewigt. In diesem Haus wollte Fries noch nicht einmal als Leiche gefunden werden, schoss es ihm durch den Kopf. Doch dann unterbrach Elling seine Gedanken.

»Sie ist wirklich etwas Besonderes. Dass sie es mit mir so lange ausgehalten hat …«

Die Stimme des Hauptkommissars klang nachdenklich. Plötzlich blieb er vor einer Wohnungstür stehen.

»Ich weiß, dass ich ein schwieriger Charakter bin. Es ist ja nicht so, dass ich wie ein unsensibler Trampel durchs Leben gehe.«

Fries holte Luft, um etwas zu sagen, hielt sich dann aber zurück.

»Nein«, sagte Fries schließlich, nachdem er kurz mit sich gerun­gen hatte. Manchmal musste man nicht die Wahrheit sagen, entschied er. »Das bist du nicht.«

Elling lachte wieder.

»Du bist so ein Weichei.«

Er schlug Fries mit dem Handrücken auf den Bauch. Der Ober­kom­­missar zuckte zusammen.

»Meine Frau hat größere Eier als du. Die sagt mir wenigstens, was sie denkt.«

Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Klingel.

»Machst du das oder muss ich hier alles allein erledigen?«

Fries biss die Zähne zusammen. Ihm fielen Wegeners Worte ein, der in seinem letzten Fall mit Elling zusammenarbeiten musste. Fries hatte Frederick damals gesagt, er solle durchhalten. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, was er da von Frederick verlangt hatte.

Er drückte die Klingel. Es dauerte und dauerte. Doch niemand reagierte.

»Vielleicht ist sie nicht da«, sagte der Oberkommissar.

Elling schob ihn zur Seite und klingelte noch einmal mit deutlich mehr Elan und Ausdauer.

»Sie ist fast immer da. Sie geht so gut wie nie aus dem Haus. Agora­­phobie oder so.«

Fries’ Stirn kräuselte sich.

»Wie kann sie dann unsere Mörderin sein?«

Elling warf ihm einen verärgerten Blick zu.

»Wie kommt es, dass du so clever und so dämlich zur selben Zeit bist?«

Der Hauptkommissar klingelte noch einmal.

»Vielleicht hat sie mir das damals nur vorgespielt«, sagte Elling. »Vielleicht hat sie damals schon den Mord an Bösner geplant.«

»Wann war das?«

»Ach, was weiß ich … ist schon ewig her.«

Fries zog eine Augenbraue hoch. Der Kollege Elling sah sich unterdessen hochmotiviert und gleichzeitig unentschlossen um.

»Vielleicht täuscht sie uns auch nur vor, dass sie nicht in der Wohnung ist«, sagte Fries und versuchte, einen Blick durch den Tür­spion zu werfen.

»Die gehen nur in eine Richtung«, grummelte Elling.

»Aber man kann das Licht sehen, oder etwa nicht? Wenn sie da­vor­stehen und uns beobachten würde, könnten wir das Licht nicht sehen.«

»Noch so ein Sherlock«, murmelte Elling und ging eine Tür weiter.

Fries atmete tief durch. Elling ließ derweil die Klingel des Nach­barn heißlaufen.

Die Tür wurde kurz darauf mit einem Ruck aufgerissen.

»Wer will was?«, fauchte eine Frau. Fries versuchte, ihr Alter zu schätzen. Vielleicht war sie erst Mitte dreißig. Vielleicht aber auch schon an die fünfzig. Die Ringe unter ihren Augen deuteten ihr har­­­­tes Leben an. Sie war nicht auf eine attraktive Art dünn, son­dern eher hager. Sie wirkte fast schon ausgezehrt.

»Elling«, sagte der Hauptkommissar. »Kripo Rostock.«

Er wühlte in seiner Manteltasche nach seinem Dienstausweis. Fries kam ihm zuvor und hielt der Frau seine Marke hin.

»Kriminaloberkommissar Fries«, sagte er nur und überließ dann wieder Elling das Feld.

»Frau Milhahn?«

»Tot«, antwortete die unbekannte Frau.

Fries warf einen Blick auf die Klingel.

»Frau Orlowski …«

»Ja?«

Die Nachbarin sah den Oberkommissar an. Sie schien verstimmt.

»Würden Sie uns vielleicht auch erzählen, woran Frau Milhahn gestorben ist?«

»Woran?«, murmelte Frau Orlowski. »Bin ich ein Doktor, oder was? Woran stirbt man, wenn man aus dem Fenster springt? Was weiß ich.«

Sie sah in den Flur hinter sich. Zwei Kinder hatten sich ange­schli­chen und giggelten.

»Haltet die Klappe. Sofort! Ich unterhalte mich.«

»Sie ist aus dem Fenster gesprungen?«

»Ja. Hab ich doch gesagt«, antwortete die Mutter. Ihrer Tonlage nach zu urteilen, wirkte Frau Orlowski gestresst. Die Kinder stan­den neben ihr und beobachteten die Polizisten. »Einfach raus und platsch. Hat ganz schön Dreck gemacht. Zum Glück musste ich das nicht saubermachen.«

»Kriegen wir Eis?«, fragte der kleine Junge. Vermutlich ging er noch nicht zur Schule. Seine Schwester wirkte älter. Vielleicht war sie acht oder neun. Sie hatte den schlanken Körperbau ihrer Mut­ter, wirkte aber nicht so abgekämpft wie sie.

»Jetzt nicht«, fauchte Frau Orlowski und schob das Kind nach hinten.

»War das dann alles?«, fragte sie Elling.

»Wann war das?«, fragte der Hauptkommissar.

»Fragt doch bei euren Kollegen. Ein paar Bullen waren hier und haben die Wohnung abgesperrt. Da hing ein Klebeband. Polizei Rostock oder so.«

Sie deutete auf den Türrahmen. Der Oberkommissar erkannte die Spuren von Kleberresten, die angesichts des Allgemein­zu­stands der Tür und des gesamten Flurs fast nicht aufgefallen wä­ren.

Frau Orlowski wollte gerade die Tür schließen, als Fries mit seiner Hand dazwischenging.

»Nur noch eine Frage«, sagte er. »Hatte Frau Milhahn Ver­wandte? Kinder? Einen Mann? Einen Freund?«

Frau Orlowski lachte auf. »Einen Mann? Nee, da war keener.«

Ihr Blick richtete sich plötzlich nach unten. Ihre Stirn kräuselte sich.

»Aber da war eine Frau«, sagte sie nach einer Weile. Sie kratzte sich an der Nase. »Bevor die Milhahn Gulasch aus sich gemacht hat. Kann sein, dass das eine Schwester oder so war. Das war so eine Aufgebrezelte. Keene Ahnung.«

Sie schloss die Tür mit einem lauten Rumms. In der Wohnung hör­te man tobende Kinder und kurz darauf eine schreiende Mut­ter.

Fries sah zu Elling.

»Scheiße«, sagte der.

»Schade«, sagte Fries. »Und ich dachte, ich könnte heute mal früher Feierabend machen.«

Fries musste grinsen.

»Halt die Klappe«, murmelte Elling.

Er ging zurück zum Fahrstuhl. Fries nahm die Treppe.

***

Zurück in der Polizeiinspektion trennten sich ihre Wege.

Elling ging zu Bergmann, um ihn über den Stand der Ermittlung in Kenntnis zu setzen. Fries schlenderte in Wegeners Büro. Der junge Kommissar saß hinter einem Berg von Akten, die er ins System einpflegen sollte. Unmotiviert tippte der junge Kommissar auf die Tastatur ein. Normalerweise wirkte Frederick glücklicher, wenn er am Computer saß.

»Alles okay?«, fragte Fries, als er sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch niederließ.

Frederick rollte mit seinem Stuhl nach hinten und verzog das Gesicht.

»Schon verstanden«, sagte Fries. »Mein Tag war auch nicht bes­ser.«

»Das bezweifle ich.«

Stimmt, dachte er und betrachtete dabei mitleidig den Papier­berg zwischen sich und seinem Kollegen. Wenn man von Ellings rup­piger Art einmal absah, hatte er sogar etwas Spaß in den ver­gan­genen Stunden gehabt. Zumindest mehr Spaß, als er es beim Einpflegen von Daten in das System gehabt hätte.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Fries und beugte sich vor.

Fredericks Augen leuchteten auf.

»Das ist der Name einer Frau, die sich vom Balkon gestürzt hat. Wir brauchen die Akte dazu. Ein paar Kollegen waren wohl vor Ort.«

»Okay«, sagte Frederick und öffnete da schon das entsprechende Programm. »Ist das alles?«

Der Drucker arbeitete bereits.

»Nein, Cordula Milhahn soll vielleicht auch eine Schwester ge­habt haben.«

»Soll … vielleicht … haben?«

»Finde das raus«, sagte Fries. »Kannst du das für mich tun?«

Frederick verzog das Gesicht.

»Du kannst auch gern wieder mit Elling zusammenarbeiten.«

Wegener schüttelte energisch den Kopf.

»Danke, aber nein, danke. Auch wenn ich das Akteneinpflegen hasse … Elling ist jetzt dein Problem.«

Aus dem Flur dröhnte die Stimme des Hauptkommissars.

»Wo steckt denn schon wieder Fries?«

Frederick lachte kurz auf, drehte sich zum Drucker um und reichte Fries den frischen Ausdruck.

»Viel Spaß mit Elling!«

Mit einem schadenfrohen Grinsen winkte er Fries beim Verlas­sen des Zimmers hinterher.

»Da bist du ja endlich«, grummelte der Hauptkommissar. »In mein Büro.«

Fries verzog das Gesicht. Mit knirschenden Zähnen folgte er dem Kollegen.

»Setz dich«, sagte der Hauptkommissar. »Es wird Zeit, dass du erfährst, worum es hier geht.«

»Endlich«, murmelte Fries.

Elling räusperte sich.

»Vor etwa einem Jahr kam eine Frau zu uns und wollte einen sexu­ellen Missbrauch anzeigen. Sie drückte sich etwas verworren aus. Deshalb dachten wir zunächst, es handele sich bei der Anzeige um eins ihrer Kinder. Allerdings stellte sich heraus, dass sie keine Kinder hatte.«

Der Hauptkommissar öffnete eine Schreibtischschublade und holte einen Schokoladenriegel heraus.

»Auch einen?«

»Nein, danke.«

Elling riss die Verpackung des Riegels auf und biss ab. Seine Augen schweiften ab. Er schien eine mentale Reise in die Vergan­gen­heit zu unternehmen.

»Sie hat den Missbrauch an sich als Kind anzeigen wollen. Als sie zu uns kam, war sie schon an die fünfzig Jahre alt. Vielleicht ein biss­­chen drunter.«

Der Oberkommissar ahnte, worauf das hinauslief.

»Nach zehn Jahren …«, sagte Fries.

»… verjähren die meisten Fälle. Die besonders schweren auch erst nach zwanzig.«

»Es sei denn, es ist ein Missbrauch mit Todesfolge. Die verjähren nach dreißig Jahren.«

Elling nickte.

»Das habe ich damals nicht erwähnt. Der Missbrauch, den sie anzeigen wollte, ereignete sich im Jahr 1986. Frau Milhahn hätte sich eher bei uns melden müssen. Da hätten wir vielleicht noch et­was tun können … aber sie kam ein paar Jahre zu spät. Deutlich mehr als nur ein paar. Uns waren die Hände gebunden.«

»Scheiße«, sagte Sören.

»Das kannst du laut sagen.«

»Ich habe ihr von dem Fonds erzählt, die Zahlungen an Opfer leis­ten.«

»Zahlungen?«

»Der Missbrauch geschah in einem Jugendwerkhof.«

Elling kratzte sich am Hinterkopf.

»An Geld war sie jedoch nicht interessiert. Sie meinte, sie wolle die Leute zur Rechenschaft ziehen. Sie sagte, dass die Typen ihr das Leben gestohlen hätten. Dafür sollten sie bezahlen.«

»Typen? Waren da mehrere dran beteiligt.«

»Indirekt … irgendwie … ich weiß auch nicht so genau … vielleicht.«

»Elling. Komm auf den Punkt.«

Der Hauptkommissar nickte.

»Im Jugendwerkhof wurde sie von einem Aufseher oder einem anderen Mitinsassen bedrängt. Ich weiß nicht mehr so genau, wie sie es formuliert hatte. Irgendwann haben ja auch Pohl und Weiß das Gespräch übernommen. Bergmann meinte, ich wäre nicht sen­sibel genug für so ein heikles Thema.«

Elling verdrehte die Augen, während er seinen Kopf schüttelte. »Egal. Auf jeden Fall hat ihr im Jugendwerkhof Rühn jemand un­an­genehm nachgestellt. Die Milhahn hatte für diesen Vorfall kei­nen Namen genannt. Allerdings hatte sie diesen Typen seiner­zeit der Heimleiterin gemeldet. Die Heimleiterin, eine Frau Renate Wus­sow, hatte die Milhahn eine Lügnerin genannt und sie darauf­hin nach Torgau geschickt. Den Rest kannst du dir sicher den­ken.«

»Die geschlossene Anstalt?«

»Ja, genau die. Im Vergleich zu denen ist der heutige Knast für Erwachsene ein Wellnessurlaub.«

Fries nickte, als wüsste er, wovon Elling da sprach. Doch er wuss­­te nicht wirklich, was damals in Torgau alles vorgefallen war. Er hatte eine grobe Vorstellung, schließlich las er hin und wieder Zei­tungen. Für die Ermittlungen sollte er diese Wissenslücke bes­ser schließen.

»In Torgau wurde sie dann von einem Aufseher bedrängt und schließlich auch gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen.«

Der Hauptkommissar atmete schwer aus. Man sah ihm an, dass dieser Fall ihm besonders naheging.

»Wenn ich mich richtig erinnere, war sie damals fünfzehn Jahre alt«, sagte Elling. »Der Mann war etwa Mitte zwanzig.«

»Der Täter von damals ist unser heutiges Opfer?«

Elling nickte.

»Habt ihr seinerzeit mit Bösner gesprochen?«

»Ja, das haben wir. Aber es war klar, dass es nichts bringen wür­de. Er hat es natürlich abgestritten. Sie wäre ein frühreifer Teen­ager gewesen. Du kennst ja die Ausreden diese Dreckskerle. Er be­haup­­tete, dass da nichts war. Die Frau würde sich das aus­denken. Sie hätte ihn zwar angemacht, aber er wäre nie darauf einge­gan­gen. Vielleicht wäre ihre Anzeige eine späte Rache für seine Ab­leh­nung. Wie auch immer. Nach über dreißig Jahren konnten wir nichts mehr für sie tun.«

Fries schüttelte den Kopf. Wie erwachsene Menschen denken konnten, Kinder oder Teenager würden sie anmachen, hatte er nie verstanden.

»Wir haben uns sein Umfeld angesehen. Sein Leben auf den Kopf gestellt. Alles durchleuchtet, um irgendwas zu finden, was nicht verjährt ist. Seinen Computer, die Finanzen und sein Haus haben wir natürlich nicht anrühren dürfen. Wegen der Verjährung der vermeintlichen Straftat hätte kein Richter einen Beschluss unter­schrieben. Wir hatten gehofft, dass er weitergemacht hat. Oft ist es ja so, dass solche Typen nicht aufhören können, wenn sie ein­mal damit durchgekommen sind.«

»Und?«, fragte Fries.

»Sauber wie eine Nonne. Wir haben nichts Illegales finden kön­nen. Verheiratet, zwei Kinder. Keine Vorstrafen. Er führte ein gere­geltes Leben.«

Elling schlug die Akte vor sich auf und nahm eine Klarsichthülle heraus. Darin befand sich ein kleiner Zettel. Der Hauptkommissar reichte Fries das Beweisstück.

»Da stehen die Namen von zwei Leuten drauf, die Frau Milhahn damals anzeigen wollte. Oben siehst du den von Gerd Bösner. Unser aktuelles Opfer. Darunter steht der Name der damaligen Direktorin, die ihr nicht geglaubt hat. Cordula Milhahn machte diese Frau für alles verantwortlich, was ihr in Torgau widerfahren war. Darunter hatte ich noch ein Fragezeichen notiert. Der große Unbekannte, dem Frau Milhahn ihre Einweisung nach Torgau letzt­endlich zu verdanken hatte. Der Mann, der ihr im ersten Jugend­werkhof nachgestellt hat und dessen übergriffiges Ver­hal­ten die Direktorin als Lüge abgetan hat. Wir wissen immer noch nicht, wer das damals gewesen war.«

Fries wedelte mit dem Zettel.

»Was machen wir jetzt damit? Die Sache ist doch verjährt. Und sowohl das Opfer als auch der Täter von damals sind tot.«

»Findest du es nicht komisch, dass die beiden so kurz nachein­ander gestorben sind«, sagte Elling und stopfte sich den Rest des Schokoriegels in den Mund. »Ein Suizid und ein Mord … innerhalb weniger Wochen … und die beiden kannten sich. Das könnte zu­sam­menhängen.«

Fries sah unschlüssig auf den Zettel. Komisch war das schon, dachte er.

»Frau Milhahn ist tot …«, wiederholte er leise. »Meinst du, dass die Familie der Milhahn die Sache in die eigene Hand genommen hat?«

Elling zuckte mit den Schultern.

»Auf jeden Fall sollten wir mit ihnen reden. Sie gehören auf die Liste der Tatverdächtigen.«

Fries überlegte, wie er sich in deren Haut fühlen würde.

»Glaubst du wirklich, dass einer der Milhahns Bösner aus Rache umgebracht hat. Die ganze Geschichte liegt über dreißig Jahren zurück?«

»Frau Milhahn ist erst vor Kurzem aus dem Leben geschieden. Ihr Name stand noch auf dem Türschild. Die Leiche ist vermutlich noch nicht mal unter der Erde. Vielleicht nimmt ein Angehöriger späte Rache, weil Cordula erst vor Kurzem verstorben ist und ihm jetzt erst klar wurde, wie traumatisch das Ganze damals wirklich für Frau Milhahn war. Die Sache aus den Jugendwerkhöfen hat sie verfolgt. Ihr Leben lang. Schließlich wollte Frau Milhahn noch im letzten Jahr Anzeige erstatten. Vielleicht hat ein Familienmitglied jetzt erst verstanden, was Bösner ihr damals wirklich angetan hat. Er hat ihr das Leben geraubt.«

»Hier.« Fries reichte Elling den Bericht, den Frederick gerade für ihn ausgedruckt hatte. »Das haben die Kollegen über den Tod von Cordula Milhahn festgehalten. Da steht nicht explizit, dass es ein Suizid war. Nicht natürlicher Tod. Das kann alles bedeuten. Auch ein Unfall oder Tötungsdelikt wären denkbar. Auf der zwei­ten Seite steht allerdings, dass es keine Anzeichen für einen Kampf gab. Die Fotos des Tatorts belegen das. Frau Milhahn hat sehr zurückgezogen gelebt. Wenig Kontakte. Alleinstehend. Keine Kinder. Keine ersichtlichen Feinde. Allerdings auch keine Freunde. Keinen Partner. Niemand, der einen Grund gehabt hätte, ihr was anzutun. Deswegen sind die Kollegen zu dem Schluss gekommen, dass sie aus eigenen Stücken ihr Leben beendet hat. Sie haben die Ermittlungen daraufhin eingestellt.«

»Einen Abschiedsbrief?«

Fries schüttelte den Kopf.

Der Hauptkommissar überflog die ersten Zeilen.

»Hasenfuß«, murmelte Elling leise. »Ausgerechnet der.«

Elling kratzte sich am Kinn.

»Hat Wegener die Akte besorgt?«, fragte er, nachdem er die erste Seite überflogen hatte.

»Ja«, antwortete Fries. »Ich sagte doch, dass er gut und schnell arbeitet.«

»Von mir aus«, murmelte Elling.

Als hätte der junge Mann seinen Namen gehört, stand Frederick plötzlich in der Tür.

»Die Schwester der Toten wohnt in Diedrichshagen«, sagte der junge Mann und reichte Fries einen Zettel mit der Adresse darauf.

»Wir sollten mit ihr reden«, sagte Elling und sah dabei auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Das machen wir morgen. Jetzt müs­sen wir erst einmal zu Bösners Familie und denen die traurige Nachricht überbringen. Möchtest du mitkommen?«

Elling sah Wegener auffordernd an. Seitdem Frederick aus der Reha entlassen worden war, saß er meistens am Schreibtisch. Fries wusste nicht, ob das nur auf Anweisung Bergmanns geschah oder ob auch der alte Wegener seine Finger mit im Spiel hatte. Offiziell hieß es, der Psychologe hätte Frederick noch nicht wieder für den Außeneinsatz dienstfähig geschrieben. Doch Fries be­zwei­felte das. Wenn es nach Frederick ging, fühlte der sich topfit. Umso überraschender war für Fries jetzt Wegeners Reaktion auf Ellings Einladung.

»Ich?« Irritiert riss der junge Mann die Augen auf. »Zu den Bösners? Die Familie des Ermordeten?«

Fries nickte. Frederick schüttelte den Kopf.

»Die restlichen Akten müssen noch eingepflegt werden«, sagte er und trat einen Schritt von der Tür zurück. »Bergmann möchte, dass ich das schnell erledige. Heute noch.«

Wegener deutete mit dem Daumen in Richtung seines Büros.

»Ich muss auch wieder«, sagte er und drehte sich um.

Elling zuckte mit den Schultern. Fries sah ihm verwundert hin­ter­her.

»Dann eben nur wir zwei Hübschen«, sagte der Haupt­kom­mis­sar.


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