Leseprobe: „Der Fischbrötchenmord“

Kapitel 1: Eine Leiche zum Frühstück

Es war ein grotesker Anblick, der sich Sören Fries bot, als er an die Leiche trat. Ein Toter auf einer Parkbank vor der Warnemünder Kirche, halb sitzend, halb liegend, in seinem Mund ein Fischbrötchen. Aus der vorderen Seite des Brötchens ragte die Schwanzflosse eines Herings heraus, sodass der Betrachter auf der gegenüberliegenden Seite der Schrippe den Kopf des salzig eingelegten Fisches vermuten konnte. In der Mitte der Stirn der Leiche, Sören Fries schätzte den Mann auf Ende dreißig, entdeckte er einen roten Punkt, unter dem sich ein zartes Blutrinnsal abzeichnete. Der Polizist vermutete, dass dies die Todesursache war. Das letzte Wort hatte allerdings der Rechtsmediziner, der, bereits über die Leiche gebeugt, den Körper nach weiteren Verletzungen absuchte.
»Guten Morgen«, sagte Fries.
Der Mediziner drehte sich um.
»Fries«, stellte der nüchtern fest. »Ja, ja, der Morgen war für unser Opfer allerdings nicht ganz so gut.«
Doktor Rolf Pannwitt richtete sich auf.
»Die Todesursache ist vermutlich das dezente Loch im Kopf. Ich schätze, ein mittleres Kaliber. Vielleicht acht oder neun Millimeter.«
»Seit wann liegt er hier?«
»Das kann ich nicht sagen. Tot ist er auf jeden Fall seit etwa acht Stunden. Also um Mitternacht rum. Vermutlich wurde er hier getötet. Die Blutspritzer und die ausgetretene Hirnmasse lassen darauf schließen.«
Der Kriminaloberkommissar nickte. Er warf einen Blick hinter die Bank. In einem Radius von einem knappen Meter lagen rote Klümpchen herum, wahrscheinlich die besagte Hirnmasse. Der Oberkommissar kniete sich neben den Leichnam und achtete darauf, keine Beweise zu vernichten.
»Und der Fisch?«
»Der ist wahrscheinlich schon länger tot.« Der Pathologe grinste. »Die Todesursache war vermutlich Ertrinken in der Marinade.«
Sören Fries lebte seit sechs Monaten in diesem idyllischen Städtchen an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns. An den Humor seines Kollegen aus der Gerichtsmedizin hatte er sich noch nicht gewöhnt. Fries machte keine Scherze, wenn es um das gewaltsame Ableben eines Menschen ging. Das fand er geschmacklos. Andererseits musste er sich in das neue Team einfügen, mit dem er seit seiner Versetzung aus Hamburg zusammenarbeitete. Dazu gehörte es eben auch, die pietätlosen Scherze von Doktor Pannwitt zu ertragen.
Fries versuchte, die Erinnerung an den Grund für seine Versetzung nach Rostock nicht in sein Bewusstsein aufsteigen zu lassen. Der Gedanke an Annettes Tod schnürte ihm immer noch die Kehle zu. Der Oberkommissar atmete tief durch.
»Haben Sie so was schon mal gesehen?«, präzisierte Fries seine Frage. »Ist das Fischbrötchen im Mund das Zeichen irgendeiner Gang aus der Gegend, die ich noch nicht kenne?«
»Die marinierten Fischköppe?«, fragte Doktor Pannwitt amüsiert. »Nein, so etwas habe ich zuvor auch noch nicht gesehen.«
Der Rechtsmediziner erhob sich.
»Vielleicht können wir herausfinden, wo dieses spezielle Brötchen verkauft wurde.« Dabei deutete er mit seinem Kopf in Richtung Hafen, in dem von umgebauten Fischkuttern täglich zentnerweise Fischwaren an hungrige Touristen verkauft wurden. Allerdings waren die schwimmenden Imbisse nicht die Einzigen, die sich am großen Fischbrötchengeschäft in Warnemünde beteiligten. Gerade im Frühjahr war Matjes sehr beliebt und deshalb auch bei einigen Bäckern, Imbissbuden und Supermärkten mit belegten Brötchen im Angebot.
In diesem Moment erreichte Kriminalkommissar Frederick Wegener den Tatort. Wie vorgeschrieben hatte er einen Einweg-Overall über seine Kleidung gezogen, und auch seine Schuhe waren eingepackt. Allerdings hatte der junge Kollege ein angebissenes Brötchen in der Hand. Mett, wie Fries am Geruch feststellen konnte. Seit Kurzem verzichtete er seiner Tochter zuliebe auf Fleisch. Der Oberkommissar war daher sensibilisiert für diese Art von Ausdunstungen.
Mit halb vollem Mund kam Wegener näher: »Tschuldigung, hatte noch nichts im Magen! Bergmann meint, dass Sie ein Tötungsdelikt untersuchen. Das kommt bei uns ja nicht so häufig vor. Ich soll Sie dabei unterstützen.«
Erst in diesem Moment erblickte Wegener die Leiche, Fisch und Brötchen im Mund des Opfers und die kleinen Hirnbröckchen, die im Hintergrund den Rasen zierten. Die Ähnlichkeit mit dem Belag seines Brötchens war dabei nicht zu übersehen.
»Das ist ja …« Wegener sprach nicht weiter. Angewidert drehte er sich von der Leiche weg, hielt sich die Hand vor den Mund und spuckte den durchgekauten Bissen hinein. So schnell er konnte, rannte Wegener, immer noch die Hand vor dem Mund, in Richtung der Autos, darum bemüht, nicht mit den Überresten seines Frühstücks den Tatort zu kontaminieren. Die beiden Schutzpolizisten, die den Platz sicherten und den Kriminalkommissar trotz Brötchens durchgelassen hatten, sahen dem jungen Mann hinterher und versuchten gar nicht erst, ihre Schadenfreude zu verbergen.
Pannwitt und Fries hörten, wie sich der Mageninhalt ihres Kollegen seinen Weg in die Freiheit bahnte.
»Ich dachte, er hätte noch nichts gefrühstückt«, sagte der Rechtsmediziner. Danach wandte er sich wieder der Leiche zu.
»Anfängerfehler«, bemerkte Fries nur knapp, der sich noch sehr gut an seinen ersten Mordfall erinnern konnte: an die leblosen Augen der Frau, den Geruch von Verwesung in der Luft, die vielen Blutspritzer an der Wand und seine Übelkeit.
Fries schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Tatort zu.
»Was wissen wir noch?«, fragte er und rückte dabei seine Brille zurecht.
»Ich vermute, dass es kein Raubüberfall war. Die gut gefüllte Brieftasche und die Rolex wurden nicht gestohlen. Ich nehme an, dass die Uhr echt ist. Genauso wie die Goldkette um seinen Hals. Die ist sicher ein- oder zweitausend wert.«
Der Typ sah nicht arm aus, das war Fries bereits beim ersten Blick auf die Leiche aufgefallen. Teure Markenschuhe, eine schwarze Lederjacke, die ohne die typischen Knickfalten wie neu wirkte, und auch das Hemd kam nicht vom Wühltisch. Früher hätte Fries aufgrund der protzigen Uhr und der auffälligen Goldkette eine Verbindung ins Milieu vermutet. Solche Typen hatte er zu Genüge auf dem Hamburger Kiez kennengelernt. Nicht viel im Kopf, dafür durchtrainierte Körper, ein dickes Bankkonto und ein Ego, das sie durch Anabolika immer weiter aufblähten. Aber in Warnemünde konnte der Tote auch einfach nur ein Tourist gewesen sein, der in seinem Urlaub seinen Kleidungsstil ein wenig protziger gestaltet hatte.
Während der Oberkommissar immer noch über das Fischbrötchen im Mund des Toten nachdachte, bemerkte er, dass Staatsanwalt Peter Lutoschka in seinem nachtblauen Volvo vorfuhr. Fries hatte noch nicht oft mit ihm zusammengearbeitet, aber ihm waren schon einige Geschichten über den Staatsdiener zu Ohren gekommen. Unter den Kollegen seiner Abteilung genoss Lutoschka einen guten Ruf. Er gehörte zu der Sorte Staatsanwälten, die zwar gern die Lorbeeren für sich einheimsten, dafür aber die Ermittlungsarbeit der Polizei überließ und nur selten hineinpfuschte. Ein Staatsanwalt ganz nach Fries’ Geschmack, der lieber seinem Instinkt folgte als den Anweisungen von Schreibtischbeamten.
Der Oberkommissar kniete sich wieder neben den Rechtsmediziner. Pannwitt reichte ihm die Brieftasche des Toten.
»Vielleicht wurde der Dieb auch gestört«, sagte Fries nach einem Blick ins Portemonnaie. Knapp fünfhundert Euro hatte er gezählt. Der Oberkommissar holte den Personalausweis hervor.
»Andreas Ricker«, las er vor. »Wohnhaft in Hamburg.«
Er seufzte. Das würde die Untersuchung nicht gerade erleichtern. Die meisten Morde geschahen dort, wo die getötete Person gelebt hatte. Das lag daran, dass die Täter oft im direkten sozialen Umfeld zu finden waren. Nur wenige Opfer wurden von Menschen getötet, die sie nicht kannten. Schließlich ging jedem Mord ein Motiv voraus.
Dass Ricker so weit von seiner Meldeadresse entfernt ums Leben gekommen war, konnte viele Ursachen haben. Zum einen konnte Ricker schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und rein zufällig das erste Opfer eines Fischbrötchen-Serienkillers geworden sein, der in den kommenden Jahren an der Ostseeküste sein Unwesen treiben würde. Das war allerdings recht unwahrscheinlich. Serienkiller gab es in Deutschland, glücklicherweise, nicht so häufig. Zum anderen konnte Ricker von einem professionellen Killer erschossen worden sein, der dafür sorgen wollte, dass der Auftraggeber im fernen Hamburg ein wasserdichtes Alibi hatte. So was kam schon häufiger vor. Allerdings wäre das Brötchen im Mund des Toten damit immer noch nicht erklärt. Es sei denn, es diente als Ablenkungsmanöver und sollte die Ermittler auf eine falsche Fährte locken.
Fries drehte den Personalausweis um. Mit dem Alter hatte er nicht ganz ins Schwarze getroffen. Andreas Ricker war am 1. Juli 1974 auf die Welt gekommen. Er war also zum Zeitpunkt seines Todes zweiundvierzig Jahre alt gewesen. Fries war gerade einmal sechs Jahre jünger als das Opfer. Während er darüber nachdachte, fiel ihm ein Detail auf dem Ausweis ins Auge, das zur Aufklärung des Falls nicht unerheblich schien.
Lutoschka kam zu ihnen herüber, blieb aber in drei Meter Entfernung stehen.
»Ist mit Ihrem Kollegen alles in Ordnung?«, fragte der Staatsanwalt mit Blick auf Wegener. Der lehnte immer noch am Wagen und gab in regelmäßigen Abständen Geräusche von sich, die denen von Katzen ähnelten, wenn sie Fellbüschel ausspuckten.
»Er wird schon wieder«, sagte Fries und begann, den Stand der Ermittlungen vorzutragen.
»Was vermuten Sie?«, fragte Lutoschka.
»Wie Doktor Pannwitt schon meinte, ist es vermutlich kein Raubüberfall. Wir werden uns erst einmal in seinem sozialen Umfeld umschauen. Er war in Hamburg gemeldet. Ich werde mich daher mit meinen alten Kollegen in Verbindung setzen. Vielleicht haben die was über ihn. Außerdem ist er ein gebürtiger Mecklenburger. Seine Familie kommt aus Kühlungsborn.«
»Kühlungsborn?«, fragte der Staatsanwalt und sah sich den Leichnam noch einmal genauer an. »Da hat Hamburg aber ganz schön auf ihn abgefärbt.«
Fries ahnte, was Lutoschka meinte. Andreas Ricker sah nach Großstadt aus. Vielleicht wäre er auch in Rostock nicht aufgefallen. Aber in dem Ostseebad Kühlungsborn wäre Ricker wie ein bunter Hund aus der Masse hervorgestochen.
»Ja, wir werden uns da auch mal umhören. Vielleicht hat er noch Verwandtschaft dort.«
»Und das Fischbrötchen? Haben Sie eine Idee, warum das platziert wurde?«
Fries überlegte. Das Fischbrötchen im Mund war wirklich seltsam.
»Vielleicht war es was Persönliches. Ein Racheakt oder so. Auf jeden Fall spricht auch das gegen einen missglückten Raubüberfall.«
Lutoschka nickte.
»Sie sollten versuchen, herauszubekommen, von wem das Brötchen verkauft wurde«, mischte sich der Gerichtsmediziner in das Gespräch ein. »Vielleicht hilft es weiter.«
Fries schüttelte fast unmerklich den Kopf. Der Staatsanwalt bemerkte das.
»Sie glauben nicht, dass das etwas bringt?«
»Wir werden der Brötchenspur auf jeden Fall nachgehen«, sagte Fries, obwohl er Zweifel hatte. »Das Brötchen wurde nicht von einem Fachmann belegt. Kein Fischimbiss würde einen Matjes im Brötchen verkaufen, an dem noch eine Flosse dran ist. Die Frage ist vielmehr: Was für eine Nachricht will der Mörder mit dem Fischbrötchen hinterlassen?« An Pannwitt gewandt, fragte Fries: »Ist da eigentlich auch noch der Kopf dran?«
»Ich hab das Brötchen noch nicht rausgeholt. Aber Matjes wird normalerweise ohne Kopf eingelegt«, antwortete der Rechtsmediziner.
»Ich verstehe«, sagte Lutoschka. »Gibt es noch was zu besprechen?«
»Wir bräuchten die Telefondaten unseres Opfers«, bemerkte Fries.
»Ich kümmere mich um die richterliche Anordnung. Die haben Sie heute Nachmittag auf dem Tisch. Noch was?«
»Nein. Im Moment nicht.«
»Dann melden Sie sich, wenn es was Neues gibt.«
»Ich halte Sie auf dem Laufenden«, schloss der Oberkommissar.
Mit einem Blick auf Wegener, der den Einwegoverall und die Schutzhauben seiner Schuhe gerade ausgezogen hatte, fragte Lutoschka: »Ist das der Wegener junior?«
Pannwitt und Fries nickten synchron.
»Der Wegener, der die Überwachung der Rockerbande, an dem das LKA monatelang gesessen hatte, fast auffliegen ließ?«
Pannwitt grinste. Fries Blick wurde hingegen immer leidender. Zu dritt starrten sie auf den jungen Kommissar, der sich am Wagen abstützend, frische Luft zufächelte.
»Ich hoffe doch, dass das nicht die einzige Verstärkung ist, die Sie in Ihrem Team haben.«
Der Oberkommissar nickte angespannt. Auch er hoffte, dass Wegeners Anwesenheit bei diesem Fall nur ein Irrtum war.
Lutoschka verabschiedete sich.
»Wann bekomme ich Ihren Bericht?«, fragte Fries. Er wusste, dass Pannwitt zwar schnell, aber auch sehr gewissenhaft arbeitete.
»Die vorläufigen Untersuchungsergebnisse bekommen Sie heute Abend. Den abschließenden Bericht vermutlich morgen.«
Das war der Vorteil, wenn man in kleineren Städten für die Polizei tätig war. In der Gerichtsmedizin stapelten sich die Leichen nicht. Die Untersuchungen wurden normalerweise sehr zeitnah erledigt.
»Danke«, sagte Fries.
Er ging zum Streifenwagen rüber, in dem Wegener Platz genommen hatte. Die beiden Schutzpolizisten standen daneben, betrachteten den blassen Kollegen und tuschelten miteinander.
»Ist heute Nacht irgendwas gemeldet worden? Ein Schuss? Ein Streit? Irgendwas Auffälliges rund um die Kirche?«, fragte der Oberkommissar die Beamten.
»Nein«, sagte der Größere der beiden. »Es war eine ruhige Nacht. Wir sind noch in der Vorsaison, da passiert wenig.«
Fries kannte Warnemünde seit seiner Kindheit. Dieses Städtchen war tatsächlich meist ruhig. Es gab kleinere Diebstähle, ab und zu eine Schlägerei, aber ermordet wurde hier gewöhnlich niemand.
»Gibt es irgendwelche Kameras auf dem Platz?«, fragte der Oberkommissar.
»Nein, das haben wir auch schon den Kollegen von der Technik mitgeteilt«, sagte dieses Mal der Kleinere und deutete mit einer Kopfbewegung rüber zu den Forensikern, die den Tatort untersuchten. »Und wenn es Kameras gäbe, wären die wahrscheinlich auch außer Betrieb gewesen. Wegen der Bauarbeiten ist gerade alles ein wenig …«
Der Polizist sprach nicht weiter. Der Baustelle um sie herum sprach für sich.
»Okay. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich.«
Die beiden Männer nickten. Der Größere ging zu einem älteren Radfahrer rüber, der an der Absperrung stehen geblieben war und den er offensichtlich kannte. Fries verabschiedete sich von dem zweiten Beamten und warf einen Blick auf Wegener.
»Bin gleich wieder bei Ihnen«, sagte Fries und ging zu einem Forensiker rüber, mit dem er bei seinem ersten Fall in Lichtenhagen zusammengearbeitet hatte.
»Moin, Bernd«, sagte Fries zu dem Mann im weißen Overall, der jeden Millimeter des Kirchenvorplatzes fotografiert hatte und nun dabei war, die Blutspritzer abzulichten. »Gibt es schon was für mich?«
»Moin, Sören«, erwiderte der über zwei Meter große und muskelbepackte Mann. »Nein, noch nichts. Die Hülse ist bis jetzt nicht auffindbar. Vielleicht hat der Mörder sie mitgenommen. Die Kugel haben wir dagegen sichergestellt. Die lag hinter dem Toten im Gras.«
»Es gibt keine Kameraaufzeichnung, habe ich gehört.«
»Richtig«, antwortete Bernd Köster, der als Physiker vor zwei Jahren zur Kriminalpolizeiinspektion Rostock gekommen war und seither mit seinem technischen Spürsinn bei vielen Ermittlungen entscheidend geholfen hatte. »Aber wir überprüfen noch mal, ob es vielleicht doch bei der Sparkasse eine Außenkamera gibt, die den Tathergang aufgezeichnet hat. Die restlichen Untersuchungsergebnisse bekommst du morgen bei der Besprechung.«
Fries wollte gerade etwas sagen, aber Köster kam ihm zuvor.
»Oder ich ruf dich an, wenn es eine heiße Spur gibt, der du heute noch folgen musst. So wie immer.«
»Danke, Bernd. Bis morgen dann.«
Der Oberkommissar ging zu Wegener rüber, der den Polizeiwagen inzwischen wieder verlassen hatte und neben Fries’ Dienstwagen wartete.
»Können wir los oder wollen Sie noch mal einen Blick auf den Tatort werfen?«
Frederick Wegener schüttelte den Kopf. Um seine Nase herum war er so grün wie der eingelegte Hering im Mund des Toten.

Gemeinsam fuhren die beiden zurück in ihre Dienststelle. Wegener starrte aus dem Fenster. Auch der Oberkommissar hüllte sich in Schweigen. Seitdem Sören Fries in Rostock arbeitete, hatte es erst ein Tötungsdelikt in der Hansestadt gegeben. Diese Tat hatte man innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden aufklären können. Ein eifersüchtiger Ehemann hatte seine Frau in flagranti mit seinem besten Freund erwischt und den Liebhaber während der darauffolgenden Auseinandersetzung erschlagen. Da eine Zeugin zugegen gewesen war, hatte der Mann gar nicht erst versucht, die Tat zu leugnen. Solche Fälle bekam man natürlich nur selten auf den Tisch. Der Mord an Ricker würde sich komplizierter entwickeln. Das hatte Fries bereits gewusst, als er den ersten Blick auf das Fischbrötchen im Mund des Leichnams geworfen hatte.
»Geht es wieder?«, fragte Fries, nachdem sie an der Kriminalpolizeiinspektion in der Ulmenstraße angekommen waren.
Wegener nickte. Er wirkte auch ohne Leiche am Morgen mit seinem hellen Teint und seinen strohblonden Haaren immer ein wenig blass.
»Gut. Dann übernehmen Sie die Recherche hier in Rostock. Ich will wissen, ob dieser Andreas Ricker in unseren Akten auftaucht. In der Zwischenzeit frage ich bei Inpol an, ob die was über ihn haben.« Er überlegte, ob er Wegener auch die Anfrage im Bundeszentralregister überlassen sollte, entschied sich aber dagegen. Aufgaben zu delegieren, gehörte nicht zu seinen Stärken. »Später telefoniere ich noch mit den Kollegen in Hamburg. Vielleicht war Ricker dort schon mal auffällig.«
Fries dachte dabei an den ersten Eindruck, den er von dem Toten gewonnen hatte. Auch wenn er ungern Leute aufgrund ihres Äußeren beurteilte, sagte ihm sein Instinkt, dass er mit seiner Einschätzung, Ricker habe etwas mit dem Hamburger Rotlichtmilieu zu tun gehabt, nicht falsch lag.
»Fries«, sagte Wegener, ehe der Oberkommissar sich wegdrehen konnte, um in sein Büro zu gehen. »Normalerweise bin ich nicht so empfindlich.«
»Wie viele Leichen haben Sie denn schon gesehen? Ich meine jetzt in echt und nicht auf Bildern.«
Wegener sah zu Boden.
»Das war die erste. Die erste in natura.«
»Dann gebe ich Ihnen einen Tipp: Wenn Sie mal wegen eines Leichenfunds an den Strand gerufen werden, verzichten Sie lieber ganz auf das Frühstück. Und auf die restlichen Mahlzeiten an diesem Tag.«
Wegener nickte. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass ihm der Vorfall unangenehm war.
»Es wäre schön, wenn Sie es nicht rumerzählen würden. Wahrscheinlich tun Sie das nicht, aber …«
»Ich sag nichts weiter«, versprach der Oberkommissar. »Allerdings geht so etwas trotzdem rum wie ein Buschfeuer. Schließlich waren wir nicht alleine dort.«
Der junge Mann sah verlegen zu Boden.
»Machen Sie sich nichts draus. Vielen ist das passiert. Der Anblick eines toten Menschen sollte Sie niemals kaltlassen.«
Wegener lächelte verkniffen.
»Gewöhnt man sich irgendwann daran?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Fries und drehte sich weg. Es hatte allerdings lange gedauert, bis er sich an den Anblick von sinnlos ums Leben gekommenen Menschen gewöhnt hatte. Aber das erzählte er Wegener nicht.
Auf dem Weg in sein Büro fing ihn der Leiter der Mordkommission ab. Er hatte den Kopf aus seinem Zimmer gestreckt, das nur zwei Räume neben dem von Fries lag.
»Auf ein Wort«, sagte der Erste Kriminalhauptkommissar Horst Bergmann und deutete an, ihm ins Büro zu folgen.
Fries ahnte, was ihn drinnen erwartete. Er atmete tief durch und betrat hinter Bergmann das Büro.
»Schließen Sie bitte die Tür«, sagte sein Chef, der hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. »Einen Kaffee?«
Der Oberkommissar erinnerte sich daran, wie er das erste Mal auf diesem Stuhl gesessen hatte. Das Mobiliar des Raums war erst ein paar Jahre alt. Bergmann hatte zwischen den modernen Einrichtungsgegenständen sein persönliches Museum aufgebaut. Das Foto eines jungen Mannes, der neben einem hellblauen Trabant stand, hing an der Wand. Später hatte sich herausgestellt, dass Bergmann selbst der junge Mann war. Ein Modell der MS Arkona stand in einem Regal links von ihnen, und daneben thronte ein Original Rubik-Zauberwürfel der ersten Generation unter einer Glasabdeckung. Bergmann war besonders stolz auf dieses Spielzeug, mit dessen Hilfe er manchmal seinen Stress abbaute.
»Ich habe gerade nicht so viel Zeit für ein Pläuschchen«, antwortete Fries immer noch stehend. »Wenn es nicht wirklich wichtig ist, würde ich mich lieber um den Fall kümmern. Sie wissen doch selbst, dass die ersten achtundvierzig Stunden bei der Ermittlung am wichtigsten sind. Und Sie haben mir nicht gerade die starke Kavallerie zur Seite gestellt.«
Der Erste Hauptkommissar sah seinen Mitarbeiter auf eine Weise an, die keinen Widerspruch duldete.
»Setzen Sie sich«, sagte Bergmann, der sich mit seinem Schreibtischstuhl zum hinteren Regal umdrehte und dort einen Becher Kaffee für Fries einschenkte. »Schwarz, richtig?«
»Ja, schwarz und stark. Danke«, sagte Fries und nahm das heiße Getränk entgegen. Dann setzte er sich.
»Sie bearbeiten den Mordfall in Warnemünde?«, fragte Bergmann, obwohl es eigentlich keine Frage war. »Was wissen wir schon?«
»Bei dem Toten handelt es sich um Andreas Ricker, wohnhaft in Hamburg. Ein Schuss in den Kopf. Der Kleidung und dem Schmuck nach zu urteilen, könnte er ein Krimineller vom Hamburger Kiez gewesen sein, der nur versehentlich hier erschossen wurde.«
»Oh«, sagte Bergmann und schnäuzte sich die Nase. »Das ist nicht so gut.«
Sein Chef wischte sich die Nase noch ein paar Mal ab, obwohl nichts an ihr klebte. Danach steckte er sich das Stofftaschentuch in die Hosentasche.
»Milieu«, sagte Bergmann leise. »Brauchen wir Unterstützung aus Hamburg oder kriegen wir das alleine hin?«
Fries nahm einen Schluck Kaffee. Das Getränk war stark, aber leider nicht mehr heiß. Vermutlich dämmerte der Kaffee schon seit Stunden auf der Warmhalteplatte der VEB-Maschine. Irgendjemand sollte Bergmann darauf hinweisen, dass die Technik seit dem Mauerfall auch im Bereich der Kaffeezubereitung Fortschritte gemacht hat, dachte Fries, sagte aber nichts.
»Unser Opfer wurde in Kühlungsborn geboren«, antwortete der Oberkommissar stattdessen. »Vielleicht hat es nichts mit Hamburg zu tun. Vielleicht hat ihn hier ein Geist aus der Vergangenheit eingeholt. Außerdem bin ich doch nicht alleine.« Fries hoffte, dass sein Chef den zweiten Hinweis auf die Zusammenarbeit mit Kommissar Wegener verstand.
»Ja, ja«, murmelte Bergmann, der genussvoll aus seinem Becher schlürfte. »Der junge Wegener. Wie macht er sich denn?«
»Wir haben gerade erst die Leiche gefunden«, antwortete der Oberkommissar. Mehr sagte er nicht.
»Der Rostocker Polizeipräsident hat mich persönlich gebeten, seinen Sohn an diesem Fall mitarbeiten zu lassen. Sie wissen doch, dass wir hier nicht so viele Morde aufzuklären haben. Natürlich haben Sie da in Hamburg viel mehr Erfahrungen sammeln können«, sagte sein Chef und fuhr, ohne Luft zu holen, fort. »Ich wollte Sie unbedingt bei diesem Fall mit an Bord haben. Zum einen verfügen Sie, wie gesagt, über die entsprechende Erfahrung, und zum anderen haben Sie Kontakte nach Hamburg. Wie sich jetzt herausstellt, sind Sie in dieser Hinsicht auch die beste Wahl.«
Fries stellte den vollen Becher Kaffee auf den Tisch.
»Danke«, sagte er. »Ich bezweifle allerdings, dass Wegener der richtige Mann ist, um mich in diesem Fall zu unterstützen. Er hat doch gerade erst seinen Abschluss an der FH gemacht. Ich meine, was lernen die denn da. Verwaltung und so. Er sollte erst bei kleineren Delikten Erfahrungen sammeln. Diebstähle, Überfälle, Vandalismus. Damit haben wir doch alle angefangen.«
Bergmann nickte gedankenversunken.
»Die Hochschule bereitet einen nur bedingt auf die Arbeit eines Polizisten vor, das wissen wir doch alle«, fuhr der Oberkommissar fort. »Die eigentliche Ausbildung beginnt im Dienst.«
»Ja, das habe ich auch gesagt. Aber Wegener hat darauf bestanden. Den Senior meine ich. Er sagte, dass sich die Aufklärung eines Mordes gut in Fredericks Akte machen würde.«
Der Oberkommissar starrte auf seinen Vorgesetzten.
»Gut in seiner Akte?«, fragte Fries hörbar angespannt.
Bergmann seufzte.
»Ich tue Wegener einen Gefallen, und das nächste Mal tut er mir einen. So läuft das nun mal. Ich kann es nicht ändern.«
Fries sah ihn genervt an.
»Mit dem Budget, das mir zur Verfügung steht, können wir keine großen Sprünge machen. Wenn ich Ihre Stelle irgendwann mal in die eines Hauptkommissars umwandeln will, dann muss ich mich mit denen da oben gut stellen.«
In Hamburg hatte Fries den Dienstgrad eines Hauptkommissars innegehabt. Er hatte einiges beamtenrechtlich in Gang setzen müssen, um aus Hamburg wegzukommen. Keine Stelle in Rostock entsprach seiner Besoldungsgruppe in Hamburg. Am Ende hatten zwei Innenministerien ein Einsehen – der schwere Schlag, den Fries erlitten hatte, und sein Können trugen zu dieser außergewöhnlichen Entscheidung bei. Fries wollte einfach raus aus Hamburg.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Eigentlich konnte er gut darauf verzichten, wieder in eine verantwortungsvollere Rolle gedrängt zu werden. Er liebte seinen Job als Ermittler und war mit der Vorstellung zurück nach Rostock gekommen, hier mit seiner Tochter ein ruhigeres Leben führen zu können. Ruhiger als das in Hamburg.
»Ich habe noch keine Ahnung, wohin uns die Ermittlung führen wird«, sagte Fries. »Wenn Ricker wirklich mit dem Hamburger Kiez zu tun hatte, dann kann es unangenehm werden.«
Bergmann stellte seinen Becher Kaffee auf den Schreibtisch.
»Dann hoffen wir mal, dass es doch nur ein Mord aus Leidenschaft war.«
»Vor einer Kirche? Mit einem Fischbrötchen im Mund? Und mit einem gezielten Schuss in die Stirn, der die Handschrift eines Profis trägt?«
Bergmann sah Fries missmutig an.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich möchte nicht, dass dem kleinen Wegener ein Härchen gekrümmt wird, während er unter meiner Aufsicht arbeitet.«
»Macht sich wohl schlecht in Ihrer Akte.« Fries betonte das ›Ihrer‹ und bereute den Satz gleich wieder. Solche Bemerkungen waren es, weshalb er bei Vorgesetzten als schlecht zu führen und nicht teamfähig galt.
»Ich seh zu, dass dem Kleinen nichts passiert«, versprach Fries. »Wenn nichts weiter ist, würde ich mich gern dranmachen, den Mörder von Andreas Ricker zu finden.«
»Gut, machen Sie das.«
Als der Oberkommissar gerade den Raum verlassen wollte, rief sein Chef ihm hinterher: »Vergessen Sie Ihren Kaffee nicht.«
Fries seufzte.

Sören Fries schloss die Tür seines Büros hinter sich und atmete tief durch. Einen Schritt nach dem anderen, dachte er, und nahm auf dem gemütlichen Stuhl am Schreibtisch Platz, den er sich statt der rückenunfreundlichen Alternative, die ihm die Dienststelle zur Verfügung stellte, selbst gekauft hatte. Er schaltete seinen PC ein und rückte die Tischunterlage zurecht, unter der ein Bild seiner Tochter lag. Fries lächelte. Auch wenn er gerade zu wenig von Jettes Leben mitbekam, wusste er, dass es ihr in Warnemünde besser ging als in Hamburg. Sie lachte wieder mehr und verbrachte viel Zeit auf dem Hof seiner Schwester, auf dem sie half, die Pferde zu versorgen. Sie hatte sofort neue Freunde gefunden, was Fries nicht weiter überraschte. Seine Tochter war schon immer schnell mit Gleichaltrigen ins Gespräch gekommen.
Freue mich auf unser Abendessen. Vergiss nicht, deine Hausaufgaben zu machen! Hdl. Papa
Fries räusperte sich. Eine SMS an seine Tochter, das musste sein.
Der Computer war startklar.
Schon bei der Abfrage im Bundeszentralregister wurde er fündig. Andreas Ricker hatte zwei Mal eingesessen. Das erste Mal als junger Mann; er hatte mit vorgehaltener Waffe einen Laden überfallen. Diese Straftat lag inzwischen eine Ewigkeit zurück. Der zweite Vorfall hingegen erst zwei Jahre. Drogenhandel. Das Verfahren war aufgrund von Fehlern eingestellt worden. Normalerweise wurde vermerkt, welcher Fehler die Verurteilung hatte platzen lassen. Diese Information fehlte jedoch.
Fries lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er wusste, was das bedeutete. Einer seiner Mitstreiter bei der Polizei hatte während der Ermittlung Mist gebaut. Vielleicht hatte er Glück und würde in Hamburg einen früheren Kollegen ans Telefon bekommen. Bei dem würde er keine Zeit vergeuden müssen. Anfragen zur Amtshilfe schriftlich einzureichen, gehörte nicht zu seinen Lieblingsaufgaben.
»Kriminalhauptkommissar Borchard«, ertönte eine kräftige Stimme am anderen Ende der Leitung.
»KOK Fries. Sören Fries«, meldete er sich. »Kripo Rostock. Borchard, erinnern Sie sich noch an mich? Letztes Jahr haben wir zusammen an der Korruptionssache Schlüter gearbeitet.«
»Fries, klar. Sie sind jetzt in Rostock?«, fragte Borchard, der die Frage auch sogleich wieder bereute. Er räusperte sich. »Ja, natürlich, ich erinnere mich an den Fall und alles danach. Tragische Sache, das mit Ihrer Frau.« Der Mann am anderen Ende der Leitung atmete tief aus. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wir haben heute Morgen die Leiche von Andreas Ricker gefunden. Laut den Unterlagen war der in Hamburg wohnhaft. Würden Sie mir den Gefallen tun und mir ein paar Infos über ihn geben?«
»Soll ich sie Ihnen schicken?«, fragte der Polizist am Telefon.
»Ja, das wäre gut«, antwortete Fries, der glücklich war, einen hilfsbereiten Gesprächspartner gefunden zu haben. »Aber bevor Sie das machen, können Sie mir vielleicht eine kurze Zusammenfassung am Telefon geben.«
»Moment.« Fries hörte das Klappern einer Tastatur. »Name des Opfers?«
»Ricker. Andreas. Geboren am 1. Juli 1974. Haben Sie ihn?«
»Wow, ja, der ist hier bekannt. Sie glauben gar nicht, wer sein Boss war. Jens Niebel. Erinnern Sie sich?«
Natürlich erinnerte sich Fries an Niebel. Als er in Hamburg gegen den Immobilienhai Jochen Schlüter ermittelte, kamen auch Verbindungen zum organisierten Verbrechen zutage. Der Name von Jens Niebel war während der Untersuchung häufiger aufgetaucht. Sein Name und der eines weiteren, viel gefährlicheren Mannes. Allerdings hatte Fries diesen Fall nicht weiter verfolgt, nachdem seine Frau gestorben war.
»Andreas Ricker wurde einmal aufgegriffen, weil er in einen größeren Drogendeal verstrickt war. Niebel gehören zwei Clubs in Hamburg, in denen mit Crystal Meth, Kokain und anderen Pillen gedealt wird, aber das wissen Sie sicher noch.«
Fries hörte, wie Borchard auf seiner Tastatur tippte, aber mit seinen Gedanken war er woanders. Es war ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen, der seiner Tochter Jette die Mutter und ihm die Frau genommen hatte. Seine Kollegen hatten angesichts ihres Todes auch gegen Schlüter ermittelt und unter anderem Jens Niebel befragt. Beide Männer hatten wasserdichte Alibis für die Tatzeit gehabt. Alles, was damals geschehen war, als er den Anruf erhielt, aus dem Kommissariat ins Krankenhaus eilte und wie er von ihrem Tod erfuhr, lief wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Er spürte den Schmerz, als wäre Annette erst gestern gestorben. Dabei lag ihr Tod schon ein Jahr zurück. Borchards Hämmern auf der Tastatur an seinem Ohr holte ihn in die Gegenwart zurück.
»Bei diesem Drogendeal wurde nur Ricker hochgenommen. Jens Niebel war bei der Übergabe nicht dabei. Ihm konnte daher auch nichts nachgewiesen werden. Damals ist Ihr Toter im Knast gelandet. Es gab aber keine Verurteilung. Da steht etwas von einem Verfahrensfehler. Aber nichts Genaues.«
Fries hörte, wie Borchard seine Computertastatur erneut lautstark bearbeitete.
»Das ist ja komisch. Der lässt mich nicht in diesen Eintrag. Ich muss da bei uns in der EDV nachfragen.«
Fries bezweifelte, dass Borchards Problem mit einem EDV-Fehler zu tun hatte.
»Sind Sie in Inpol?«, fragte Fries.
»Ja«, antwortete Borchard.
Wenn auch der Hamburger Kollege die Datei nicht öffnen konnte, dann war dieser Eintrag vermutlich bewusst gesperrt worden. Aber wer steckte dahinter? Um diese Frage zu beantworten, lag ein langer Weg vor ihm: unzählige Formulare, endlos lange Anträge und garantiert immer wieder Absagen. Sobald das organisierte Verbrechen ins Spiel kam, behielten das Bundeskriminalamt oder eines der Landeskriminalämter ihre Informationen lieber für sich. Fries hasste diesen Behördenirrsinn. Letztendlich standen sie doch alle auf derselben Seite.
»Das war vor zwei Jahren?«, fragte Fries.
»Ja, ungefähr zwei Jahre ist das her.«
Das erklärte, warum er sich nicht an den Namen von Andreas Ricker erinnern konnte. Seine Ermittlungen gegen Schlüter und Niebel hatten erst ein paar Monate später begonnen.
»Was hat er in der Zwischenzeit gemacht?«, wollte Fries wissen.
»Seit damals ist er vom Radar verschwunden«, antwortete Borchard. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er sich einen normalen Job gesucht oder von seinen Ersparnissen gelebt. Aber das ist wohl eher unwahrscheinlich.« Der Kollege sprach das aus, was Fries dachte.
Fries machte sich eine Notiz. Ricker … letzte 2 Jahre. Dahinter setzte er ein Fragezeichen.
»Gibt es noch etwas, das ich über unseren Toten wissen sollte?«
»Nichts Spezielles«, antwortete Borchard. »Ich maile Ihnen einfach alles zu, was ich über Andreas Ricker habe.«
Fries diktierte dem Hauptkommissar seine E-Mail-Adresse und beendete das Gespräch.
Kommissar Wegener stieß die Bürotür auf.
»Andreas Ricker war einer von uns«, sagte er voller Begeisterung.
»Ich weiß. Er wurde in Kühlungsborn geboren. Haben Sie auch was Neues für mich?«
»Kühlungsborn?« Wegener sah seinen Kollegen irritiert an. »Ich meine, dass er einer von uns war. Nicht direkt von uns, aber fast. Ricker war ein V-Mann.«
»Was?« Fries stand auf, kam um den Schreibtisch herum und nahm seinem Kollegen die Zettel ab, mit denen der junge Mann herumfuchtelte. »Das erklärt den gesperrten Eintrag in der Akte.« Er sprach so leise, dass sich Wegener anstrengen musste, das Gemurmel seines Kollegen zu verstehen.
»Und woher wissen Sie das?«, fragte Fries laut.
»Ehm, also, ich …«
»Ich will es gar nicht wissen. Ich nehme mal an, es hat mit Ihrem Vater zu tun.«
Der junge Kollege verzog seinen Mund, antwortete aber nicht. Fries setzte sich wieder.
»Da Sie so gut recherchieren können, besorgen Sie uns doch die Adresse der Eltern in Kühlungsborn. Und ich versuche inzwischen herauszubekommen, wessen Informant unser Toter war.«
Der Kommissar nickte und verließ das Büro.
Während Wegener die Adresse der Eltern in Erfahrung brachte, rief Fries einen alten Bekannten beim BKA an. Sein Freund arbeitete zwar nicht direkt in der Abteilung SO, Schwere und Organisierte Kriminalität, versprach aber, sich mal umzuhören. Dieser Weg entsprach nicht dem offiziellen Prozedere, ersparte Fries aber viel Zeit.
Fünfzehn Minuten später saßen die beiden Rostocker Polizisten im Auto und fuhren Richtung Westen. Wegener berichtete, was er herausgefunden hatte.
»Also, die Mutter starb kurz nach der Wende. Der Vater erst vor ein paar Monaten. Es gab noch einen Bruder, aber der ist schon als Jugendlicher gestorben. Ertrunken in der Ostsee. Hier steht, dass es bei einem Fluchtversuch war. Ricker war danach Einzelkind.«
»Wann starb der Bruder?«
Wegener blätterte in seinem Notizbuch zurück. »1987«, antwortete er. »1994 verstarb die Mutter. Der Vater 2015.«
Fries fuhr schweigend weiter. 1987. Nur zwei Jahre vor der Maueröffnung. Zu viele Leute waren an der Grenze gestorben. Andreas Rickers Leben wäre vielleicht anders verlaufen, wenn sein älterer Bruder nicht verunglückt wäre. Solche Schicksalsschläge stellten das ganze Leben auf den Kopf. Sören Fries wusste das nur zu gut. Seit Annettes Tod war nichts mehr wie vorher. Der Tod eines geliebten Menschen beeinflusste das Leben der ganzen Familie, aber das eines Jugendlichen auf besondere Weise. Er dachte an seine dreizehnjährige Tochter. Andreas war auf die schiefe Bahn geraten. Ihr würde es nicht so ergehen. Jette wuchs in einem behüteten Umfeld auf. Aber das allein reichte nicht, um ein Kind zu beschützen. Wegener riss ihn aus seinen Gedanken.
»Wissen wir schon, für wen Ricker als V-Mann tätig war?«
Fries schüttelte den Kopf.
»Solche Anfragen dauern länger«, antwortete er und ließ dabei unerwähnt, dass er nicht den korrekten Dienstweg eingehalten hatte. Fries kannte seinen jungen Kollegen nicht gut genug, um ihm zu vertrauen. Wenn der Sohn des Polizeipräsidenten Fries’ unkonventionelle Ermittlungsmethoden beim Familienessen ausplauderte, konnte der Oberkommissar seinen Dienst in Rostock bald quittieren. Ihre Zusammenarbeit würde sich deshalb auf eine rein funktionale Ebene beschränken.
»Die Leute vom BKA lassen sich nicht gern in die Karten schauen. Oder besser gesagt: Sie sind ein wenig paranoid, wenn es um die Herausgabe von Informationen geht. Ich bin dran und erzähle Ihnen, wenn es was Neues gibt.«
Diese Antwort schien Wegener zu genügen.
»Da dies ja nun mein erster Mordfall ist«, sagte der Kommissar, nachdem er längere Zeit schweigend aus dem Fenster gesehen hatte, »macht mein Vater Druck, dass ich nichts vermasseln soll. Nicht so, wie bei der Observierung neulich. Er sagte, es würde sich gut in meiner Akte machen, wenn ich … also, ich meine natürlich … wir den Fall lösen könnten.«
Fries wartete, ob dem noch etwas folgen würde, aber sein Kollege blieb still.
»Es ist mir egal, was Ihr Vater erwartet oder was sich gut in Ihrer Akte macht. Wir haben einen Toten, und unser Job ist es, den Mörder zu finden.«
»Oder die Mörderin …«, verbesserte ihn Wegener.
»Ehrlich?«, fragte Fries. »Glauben Sie wirklich, dass es eine Frau war?«
»Warum nicht?«
»Frauen morden für gewöhnlich dezenter«, antwortete der Oberkommissar. »Es gibt nur wenige Frauen, die mit einer Schusswaffe töten. Statistisch gesehen ist es daher eher unwahrscheinlich.«
Wegener schwieg und sah wieder aus dem Fenster über die grüne Landschaft, die das Land wie eine Decke überzog. Baumzeilen lösten Felder ab und über dem Ganzen erstrahlte die Sonne wie Scheinwerfer über einem Filmset. Im Frühjahr ist Mecklenburg-Vorpommern besonders schön, dachte Oberkommissar Fries. Als Jugendlicher hatte er das nicht so empfunden. Damals wollte er einfach nur vor der Tristesse fliehen, die das Land zu überschwemmen schien.
Der Wagen bog in einen Feldweg ein. Die Äste der Büsche, die den Weg säumten, breiteten sich bis auf die Fahrbahn aus.
»Sieht ziemlich verlassen aus«, stellte Wegener fest.
»Nein, nicht, wenn Sie genau hinschauen. Einige Äste sind abgebrochen. Hier ist in letzter Zeit ein Auto durchgefahren.«
Vor dem weißen Reetdachhaus der Familie Ricker bemerkte Fries als Erstes einen kleinen roten Renault. Für einen Mann wie Ricker ein sehr unscheinbares Gefährt. Fries hätte ihm eher einen SUV oder eine protzige Limousine zugetraut. Aber vielleicht gehörte dieses Auto zur Tarnung eines V-Manns.
Als sich die beiden Polizisten dem Haus näherten, huschte eine Silhouette hinter dem Vorhang vorbei. Wegener griff nach seiner Waffe. Fries schüttelte den Kopf, deutete mit dem Zeigefinger vor dem Mund an, still zu sein, zeigte auf Wegener und dann auf die vordere Tür. Er selbst verschwand in Richtung Rückseite des Hauses.
»Wohin so eilig?«, fragte Fries das Hinterteil einer Frau, die mit dem rechten Fuß zuerst aus einem Fenster gestiegen war und deren linkes Bein immer noch auf der Fensterbank kniete.
Zaghaft drehte sie ihren Oberkörper, so weit es ging, um. Die Frau hatte rote schulterlange Haare, ein üppiges Dekolleté und trug eine Sonnenbrille.
»Wer schickt Sie? Was wollen Sie?«, fragte sie mit hartem Akzent.
Fries erkannte Angst in ihrer Stimme, auch wenn sie versuchte, sich diese nicht anmerken zu lassen.
»Kripo Rostock«, antwortete er und zeigte dabei seinen Dienstausweis. »Ich bin Kriminaloberkommissar Fries und ich wurde von niemandem geschickt. Wen erwarten Sie denn?«
Mit einem Satz sprang sie vom Fenstersims nach draußen und landete direkt vor den Füßen des Oberkommissars. Angesichts der zentimeterhohen Absätze ihrer Stöckelschuhe glich diese Landung einer wahren Glanzleistung.
»Niemand«, antwortete sie und nahm ihre Handtasche vom Fensterbrett.
»Und wer sind Sie?«, wollte Fries wissen.
»Das geht Sie nichts an«, antwortete die Rothaarige und klopfte den imaginären Schmutz von der eng anliegenden Jeans.
Sören Fries betrachtete die Frau. Er schätzte sie auf Mitte vierzig. Zu jung, um die Mutter von Andreas Ricker zu sein. Aber die war ja schon tot. Ihrem Kleidungsstil und ihrer Aussprache nach zu urteilen, kam sie aus Osteuropa oder Russland. Auf dem Hamburger Kiez hatte er oft mit Damen aus dieser Region zu tun gehabt. Er versuchte, die Rothaarige nicht von vornherein in diese Schublade zu packen, aber seine langjährige Berufserfahrung sagte ihm, dass er hier eine Dame vom Fach vor sich hatte.
»Es geht mich sehr wohl etwas an, wer Sie sind. Da Sie nicht die Inhaberin dieses Hauses sind, soweit ich informiert bin, gehört es Andreas Ricker, und Sie offensichtlich hier eingebrochen sind, muss ich Sie verhaften. Das beginnt meistens damit, die Personalien festzustellen.«
Fries war auf ihre Reaktion gespannt.
»Ich bin hier doch nicht eingebrochen!«
Sie sah auf das offenstehende Fenster, und in dem Moment wurde ihr klar, wie es für den Polizisten aussehen musste. »Es ist nur … ich habe Ihren Wagen gesehen und mir gedacht, dass ich besser verschwinden sollte.«
Fries zog beide Augenbrauen nach oben.
»Ich weiß, ich weiß, es sieht so aus, als ob ich eine Verbrecherin wäre.« Sie nahm ihre Sonnenbrille ab. Darunter hatte sich ein dickes Veilchen versteckt. »Ich hatte Angst.«
»Das mit der Angst glaube ich Ihnen eventuell«, sagte er und deutete auf ihr blaues Auge. »Wollen wir nicht reingehen, und Sie erzählen uns, vor wem Sie Angst haben?«
Die Unbekannte atmete tief durch. Dann nickte sie zögerlich. Gemeinsam gingen sie zur Vorderseite des Anwesens, wo Wegener immer noch mit gezückter Waffe die Eingangstür bewachte. Zu dritt betraten sie das alte Bauernhaus der Rickers.


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