Leseprobe: „Der Bienenmord“

Kapitel 1: Alte und neue Fälle

Sören Fries starrte auf das Foto in seiner Hand. Das hatte er nicht kommen sehen. Wer steckte hinter diesem Bild? Was hatte der Absender vor? Wollte er Sören unter Druck setzen? Warum hatte der Unbekannte dann nicht auch gleich eine Nachricht beigefügt?

Der Oberkommissar betrachtete die Aufnahme nun schon mehrere Minuten. Immer wieder hatte er sich das Foto angesehen, nachdem er es heute Morgen unter dem Scheibenwischer geklemmt gefunden hatte. Wer wollte etwas von ihm? Wer hatte ihn überwacht? Und warum hatte Sören nicht bemerkt, dass er beobachtet worden war?

Vier der sechs Menschen auf dem Foto kannte er gut, es waren Mitglieder seiner Familie. Zwei Personen auf dem Abzug waren Fremde. Fries konnte sich genau an diesen Moment erinnern. Eigentlich war es ein schöner Tag gewesen. Abgesehen von der nicht ganz unwesentlichen Tatsache, dass die schlimmste Psychopathin, mit der er es jemals zu tun gehabt hatte, an diesem Tag bei einem Gefangenentransport geflohen war.

Es hatte wilde Spekulationen darüber gegeben, wie es die ehemalige BKA-Oberkommissarin geschafft hatte, zwei Polizisten zu überwältigen und dann zu entkommen – ohne eine Spur zu hinterlassen.

Wochen waren seither vergangen. Mittlerweile war es still um Stefanie Brandt geworden, die nicht nur Geld bei einer verdeckten Ermittlung gestohlen, sondern ganz nebenbei noch mehrere Männer getötet hatte. Fast wäre sie mit ihren Taten davongekommen. Doch eben nur fast. Fries hatte sie auf der Zielgeraden erwischt. Und nun war sie dennoch weg.

Der Fall Brandt lag mittlerweile bei ihren früheren Kollegen in Wiesbaden. Soweit Fries informiert war, vermutete man dort, dass Stefanie Brandt ins Ausland geflohen sei. Der Rostocker Oberkommissar bezweifelte das. Brandt hatte ihm schließlich Rache geschworen.

Es klopfte an der Tür. Ohne auf ein Zeichen von ihm zu warten, wurde sie gleich geöffnet.

Frederick Wegeners Kopf lugte durch den Spalt hervor.

»Darf ich stören?«

Sören warf einen letzten Blick auf das Foto und ließ es dann in seiner Schreibtischschublade verschwinden.

»Natürlich«, antwortete er und deutete auf den Besucherstuhl.

Frederick huschte durch den Spalt, sah noch einmal den Flur hinab und schloss die Tür dann schnell hinter sich.

»Wirst du verfolgt?«

Fredrick wog den Kopf sachte zu beiden Seiten. Er schien über die Frage nachzudenken.

»Nein«, antwortete er schließlich. »Ich möchte bloß nicht, dass du Ärger bekommst.«

Sörens Blick streifte die Schublade.

»Was gibt’s denn?«

Seine Stimme klang angespannt.

»Dieser neue Fall …«, begann Frederick zögerlich.

Fries ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen.

»Also der Kollege Elling ist wirklich nett … auf seine Art.«

Wegener hielt inne. Der junge Kommissar schien nach den passenden Worten zu suchen.

»Und er ist ein guter Ermittler«, sagte Sören nach einer Weile.

»Ja, das ist er sicherlich. Er ist aber nicht so wie du, also …« Frederick holte laut Luft. Dann platze es aus ihm heraus. »Meine Meinung zählt bei ihm gar nicht. Egal, was ich sage, er hört mir nicht zu. Ich habe das Gefühl, ein Klotz an seinem Bein zu sein. Wenn ich was vorschlage, macht er das genaue Gegenteil. Ich bin sein Pavlovic, wenn ich das so sagen kann. Also, wenn er der Hasenfuß wäre …«

Wegener sprach ein Ermittlerteam an, mit dem Sören und Frederick bei ihrem letzten gemeinsamen Fall zusammengearbeitet hatten. Der jüngere Kollege Pavlovic hatte in diesem Duo recht wenig zu sagen.

Fries hob die Hand. Wegener sah ihn überrascht an.

»So schlimm?«

Der Kommissar nickte.

»Ich glaube nicht, dass ich bei ihm irgendetwas lerne. Außer vielleicht, den Mund zu halten.«

»Und du hast gesagt, ich wäre ein Kontrollfreak.«

Frederick warf ihm durch seine zu Schlitzen geformten Augen einen kühlen Blick zu. Sören setzte sich darauf aufrechter hin.

»So ähnlich haben wir doch auch angefangen«, wollte Fries ihm erklären, doch Frederick fiel ihm ins Wort: »Aber bei dir habe ich trotzdem immer was gelernt. Und du hast mir zugehört. Auch wenn es nicht immer logisch war, was ich da von mir gegeben habe. Du hast zugehört. Du hast mir eine Chance gegeben, auch wenn ich Mist gebaut habe.«

Fries grinste. Er versuchte, es nur innerlich zu tun, aber sein Gesicht hatte da eigene Pläne. Wegeners Augen formten wieder kleine Schlitze.

»Die Entscheidung habe ich nicht getroffen. Bergmann hat mich hierher versetzt. Sei froh, dass du das nicht machen musst.«

Sören betrachtete den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Alte Fälle, die er sich noch einmal mit einem frischen Auge ansehen sollte … Das hatte Bergmann ihm vor wenigen Wochen aufgetragen. Dabei hatte seine Stimme dermaßen fröhlich geklungen, als würde es in diesen Ermittlungen um geklaute Gummibärchen und vermisste Einhornbabys gehen. Doch stattdessen sollte Fries sich die ungeklärten Morde der letzten dreißig Jahre anschauen. Fälle, bei der nicht nur jede Spur eiskalt war, sondern bei denen viele Zeugen schon selbst das Zeitliche gesegnet hatten.

Auch das hatte Fries nicht kommen sehen. Der kleine Wegener hatte dagegen recht behalten. Sören wurde zwar nicht suspendiert, aber doch kaltgestellt. Nur, bis die Sache mit der Brandt vom Tisch ist, hatte Bergmann dazu gesagt. So lange kann das ja nicht dauern, bis die Kollegen sie erwischen, hatte sein Chef noch leise hinterhergegrummelt. Im Vergleich zum Neuling Wegener hatte der Erste Hauptkommissar Bergmann mit seiner Einschätzung sehr daneben gelegen.

»Vermutlich war es mein Vater.« Frederick riss Sören aus seinen Gedanken. »Er meint, dass er nichts damit zu tun hätte, aber ich glaube ihm nicht. Er hat mit allem was zu tun, wenn es um mich geht.«

Fries deutete mit seinem Kopf in Richtung der Akte in Fredericks Hand.

»Wobei kann ich helfen?«

»Ein Unfalltod, wenn es nach Elling geht. Ich glaube aber, dass es ein Mord war.«

»Was sagt Pannwitt?«

Frederick zuckte mit den Schultern.

»Der Altherrenklub ist sich einig. Keine Auffälligkeiten. Nichts, was gegen einen Unfall spricht.«

Fries sah ihn amüsiert an. Altherrenklub? Ihm gefiel dieses Wort. Er beugte sich über den Schreibtisch, nahm die Akte von Wegener und öffnete sie.

»Und was soll ich dann tun?«

»Vielleicht noch einmal einen Blick drauf werfen, mit einem frischen Auge?«

Wegener lächelte verkniffen.

Fries knirschte mit den Zähnen. Er mochte es nicht, in die Fälle von Kollegen hineinzupfuschen. Er mochte es ja auch nicht, wenn ein anderer Ermittler ihm über die Schulter sah oder ihm sogar dabei reinredete, wie er vorgehen sollte. Warum sollte es Elling anders ergehen? Der Mann stand kurz vor der Rente. Wenn jemand Erfahrung in diesem Job hatte, dann war das Elling.

»Es ist ein Gefühl«, sagte Frederick. »Meine Intuition?«

Sören räusperte sich.

»Deine Intuition?«

Frederick nickte und lächelte dabei. Er wirkte so, als ahnte er da bereits, dass er schon gewonnen hatte.

Sören rang nur kurz mit sich. Abgesehen von der Tatsache, dass er Frederick mochte und es ihm fehlte, mit ihm zusammenzuarbeiten – oder überhaupt an einem aktuellen Fall zu arbeiten, bei der die Leiche noch nicht ganz abgekühlt war – schuldete er Frederick deutlich mehr als diesen kleinen Gefallen: Der junge Mann hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit das Leben gerettet.

»Ich nehme die Akte mit nach Hause und sehe sie mir da an. Elling muss es ja nicht unbedingt mitkriegen. Das bleibt unter uns!«

Fries sah ihn mit dem strengsten Blick an, den er im Repertoire hatte. Der junge Ermittler stand auf und nickte dabei zufrieden.

»Danke«, sagte Frederick. »Kann ich dir vielleicht auch bei irgendetwas helfen?«

Wegener sah auf den Aktenberg neben Fries.

»Nein, danke.« Der Oberkommissar seufzte. »Wenn ich was finde, wobei du helfen kannst, melde ich mich.«

Nachdem Wegener die Tür hinter sich geschlossen hatte, war es wieder still im Raum. Diese Stille begleitete ihn nun schon seit Wochen. Er hatte sie eigentlich immer gemocht, diese Stille. Doch seit er nicht mehr mit Wegener zusammenarbeitete, hatte er bemerkt, dass dieses absolute Geräuschvakuum ihm und seiner Konzentration nicht mehr guttat.

Sören warf einen verärgerten Blick zur Tür. Der junge Mann hatte es tatsächlich geschafft, dass er lieber im Team arbeitete als allein. Hätte ihm das jemand vor einem Jahr gesagt, hätte er ihn nur ausgelacht. Doch nun saß er in seinem Büro und lauschte der Stille. Draußen wurde eine Tür geschlossen. Bergmann sprach in der Kaffeeküche mit einem Kollegen.

Kaffee. Das wäre jetzt eine Möglichkeit. Aber er wollte auch nicht auf Bergmann treffen. Seitdem Fries den Sonderauftrag mit den alten Fällen bekommen hatte, war die Stimmung zwischen den beiden Männern deutlich abgekühlt.

Er nahm die oberste Akte vom Stapel. Ein Mordfall von vor über siebzehn Jahren. Nicht, dass dieser Fall das größte Potenzial gehabt hätte. Es war das Foto des Opfers – eine junge Frau, Anfang zwanzig, vergewaltigt und im Gespensterwald verscharrt – das ihn nicht wieder losgelassen hatte. Heute wäre sie ungefähr so alt wie er gewesen, wenn ein Mörder ihrem Leben kein vorzeitiges Ende gesetzt hätte.

Erst Wochen später, nachdem die Eltern Claudia Arnold vermisst gemeldet hatten, wurde sie von Spaziergängern im Gespensterwald gefunden. Ihr Körper konnte anhand der DNA und der Kleidung identifiziert werden. Das Wetter, die Insekten und die Zeit hatten alle anderen Spuren vernichtet.

Sören öffnete die Akte und sah auf das vergilbte Foto. Die Tote hatte eine pinkfarbene Windjacke an, der kurze Rock war nach oben geschoben, vom Slip fehlte jede Spur. Damals hatte man befürchtet, ein Serienvergewaltiger würde die Gegend heimsuchen. Gerade die vermisste Unterhose ließ diese Vermutung zu. Serienvergewaltiger nahmen gern Andenken mit. Doch meistens begannen sie nicht mit einer Vergewaltigung, die in einem Mord endete. Sie steigerten sich langsam.

Fries widersprach deshalb der Theorie der damaligen Kollegen, dass ein Sexualstraftäter für dieses Verbrechen verantwortlich gewesen war. Elling war damals als zweiter Ermittler am Fall beteiligt gewesen. Ellings damaliger Vorgesetzter war der heutige Rostocker Polizeipräsident. Fredericks Vater. Vielleicht hatte sich Sören deshalb den Fall rausgesucht. Unbewusst, wie er sich einzureden versuchte. Aber insgeheim hoffte er, den Mord an Claudia Arnold doch noch aufklären zu können. Er wollte es dem alten Wegener zeigen, dem er vermutlich die Einteilung bei den alten Fällen zu verdanken hatte.

Im Gegensatz zu den beiden früheren Ermittlern vermutete Fries, dass diese Tat ein Eifersuchtsdelikt gewesen war, eine Tat im Affekt, die nachträglich inszeniert wurde.

Drei Fragen hatte Sören sich an den Rand der Akte geschrieben: (1) Wurde Claudia A. wirklich im Wald ermordet oder dort nur platziert? (2) Was hat der Täter mit dem verschwundenen Slip gemacht? (3) Warum hatte es keine Folgetaten in der Umgebung gegeben, wenn es ein Serienvergewaltiger war?

Diese Tatsache hatte Fries überprüft. Nach dem Mord an Claudia Arnold war es zu keinen weiteren Überfällen mit ähnlichem Tatmuster in der Gegend gekommen. Es hatte ihn viel Zeit gekostet, die Papierakten aus dem ganzen Bundesland anzufordern und zu durchforsten. Zumal ihm kein Frederick Wegener zur Seite gestanden hatte, der solche Recherchesachen schneller und mit mehr Hingabe erledigte als alle anderen Kollegen, die er kannte.

Fries kratzte sich an der Stirn. Schon wieder kam ihm das Foto in den Sinn, das er am Morgen an seinem Auto gefunden hatte. Wer steckte dahinter? Auch Elling tauchte wieder in seinen Gedanken auf. Der alte Kommissar würde sicher nicht begeistert sein, wenn Fries auch in einem zweiten von Ellings Fällen herumstocherte. Sören schloss die alte Akte wieder. In seinem Kopf rauschte es. Claudia Arnold hatte seine volle Aufmerksamkeit verdient. Doch im Moment kreisten andere Gedanken durch seinen Kopf. Gedanken, die er nicht abstellen konnte.

Fries öffnete im Computer sein Überstundenkonto. Sein Guthaben hatte die erlaubte Grenze weit überschritten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es Viertel nach drei war. Claudia Arnold war bereits siebzehn Jahre tot, ohne dass ihr Mörder gefasst worden war. Ein Tag mehr würde nun auch nichts ausmachen. Er beschloss, Feierabend zu machen.

***

Als er auf den Hof seiner Schwester fuhr, sah er Jette noch von hinten auf Goliath sitzend davongaloppieren. Susanne brachte eine Schubkarre voller Pferdeäpfel hinter die Scheune. Ein Biobauer aus der Nachbarschaft holte den Mist von dort ab. Im Austausch dafür brachte der Landwirt jede Woche frisches Obst und Gemüse vorbei, je nachdem, was das Feld gerade hergab. Ein faires Geschäft für beide Seiten.

Astrid saß auf einer Bank vor dem Haus und starrte auf ihren Laptop. Die Jungs spielten vermutlich hinterm Haus oder waren bei Freunden, vermutete Sören. Er konnte Felix und Björn nicht entdecken.

Überrascht sah Astrid auf.

»Was machst du denn schon hier?«, fragte seine Schwägerin wenig charmant.

»Und du? Gibt es keine Jugendlichen mehr, die unsere Häuser beschmieren?«

Er setzte sich zu ihr.

»Schön wär es, wenn es nur um Graffitis ginge. Eine Gang schüchtert Rentner ein, überfällt kleine Geschäfte und prügelt sich mit anderen Teenagern. Wenn wir da nicht sofort aktiv werden, fliegt uns das in ein paar Jahren um die Ohren.«

»Ist das Jugendamt da nicht dran beteiligt?«

»Du weißt doch, unter welchen Bedingungen die arbeiten. Die geben ihr Bestes. Aber solange eine Mitarbeiterin für hundert Heranwachsende oder mehr verantwortlich ist, wird sich in diesen Familien nicht viel ändern.«

Astrid klappte das Notebook zu.

»Bei mir sieht es also nur so aus, als ob ich Feierabend hätte. Ich arbeite noch. Allerdings in einer schöneren Umgebung, die mir das Gefühl gibt, dass die Welt nicht ganz so schlimm ist. Was ist deine Ausrede dafür, jetzt schon hier zu sein?«

Sören lächelte. Astrids Frustration konnte er gut nachvollziehen. Manchmal war es wichtig, sich vor Augen zu führen, warum man im Dreck der anderen wühlte. Die Welt war nicht nur düster. Sie war ein wunderschöner Ort, an dem man wundervolle Momente erleben konnte und der es wert war, gerettet zu werden.

»Möchtest du was trinken?«, unterbrach seine Schwägerin seine Gedanken.

»Habt ihr noch vom selbst gemachten Apfelsaft?«

Das letzte Wort betonte er. Zeitgleich deutete er Anführungszeichen in die Luft an. Astrid grinste.

»Der Apfelsaft für Erwachsene steht im Kühlschrank.«

Sören ging ins Haus und kam kurz darauf mit zwei Gläsern voller Apfelmost zurück. Schweigend genossen sie das süffige Getränk und die Stille des Landlebens. Endlich hatte er das Gefühl, abschalten zu können. Doch er war nicht hier, um die Natur zu genießen. Insgeheim hatte er gehofft, Astrid anzutreffen.

»Ich habe Post bekommen«, begann er das Gespräch. »Unangenehme Post.«

»Vom Finanzamt?«

Sören schüttelte den Kopf.

»Geht es um deine alte Kollegin?«

Er nickte.

»Muss man dir denn alles aus der Nase ziehen?«

Jetzt musste er grinsen. Er mochte Astrids direkte Art, doch dann fiel ihm ein, weshalb er hier war. Augenblicklich verschwand sein Lächeln. Er holte das Foto aus seiner Aktentasche und reichte es ihr.

»Was … äh … wo … ich meine … wie …«, begann sie immer wieder, doch sie beendete ihre Fragen nicht.

Sören deutete mit dem Arm in Richtung des Hügels am Ende der Weide.

»Er muss es von dort aufgenommen haben.«

»Oder sie? Vielleicht war es ja Stefanie Brandt selbst.«

Er spürte einen steigenden Druck auf seinem Magen, als er sich daran erinnerte, wie sich die ehemalige BKA-Beamtin zum ersten Mal dem Hof und seiner Familie genähert hatte.

»Ich glaube nicht«, antwortete er. Sicher war er sich jedoch nicht.

»Gibt es einen Absender?«, fragte seine Schwägerin und drehte den Umschlag dabei mehrmals um. Ihre Augen huschten hektisch vom Umschlag zu ihrem Schwager und wieder zurück.

Sören schüttelte den Kopf.

»Was sagt Bergmann dazu?« Ihre Stimme klang lauter als zuvor.

Sein Blick beantwortete die Frage.

»Du hast es Bergmann noch nicht gezeigt?«

Astrids Stimme war mittlerweile so laut, dass sie bis ans hintere Ende des Hofs dröhnte. Zumindest vermutete Sören das, da Susanne hinter der Scheune hervorkam und ihnen lächelnd zuwinkte.

Die beiden lächelten gezwungenermaßen zurück. Doch Astrid und Sören war anzusehen, dass ihr Lächeln nur aufgesetzt war.

»Und nun? Willst du es für dich behalten?«

Sören holte Luft. Er wusste ja selbst nicht, was er tun sollte. Das Vernünftigste wäre gewesen, Bergmann darüber zu informieren. Schließlich hatte er nichts getan, was er nicht hätte tun sollen. Er hatte seiner Tochter ein Pferd gekauft. Doch auf dem Foto sah man das nicht. Man sah nur, dass zwei Männer – der eine arbeitete für die Polizei, der andere für einen Verbrecherboss – einen Umschlag austauschen. In welche Richtung das geschah, konnte man nicht erkennen. Auch nicht, was sich im Umschlag befand. Schlüsse daraus zu ziehen, wurde dem Betrachter der Szene überlassen. Fries wusste als erfahrener Polizist, was seine Kollegen und seine Vorgesetzten in dieses Foto hineininterpretieren konnten und vermutlich auch würden.

»Hast du eine Ahnung, wer dir das Bild geschickt hat?«

Sören stütze sein Kinn auf die Hand und seinen Ellenbogen auf den Tisch. Frustriert schüttelte er den Kopf.

»Ich habe eine Theorie. Der Prinz hat gewusst, dass sein Mitarbeiter hier war. Er hätte uns fotografieren lassen können, um mich irgendwann in der Hand zu haben.«

»Das ist möglich. Und die Brandt kann es nicht gewesen sein?«

»Auf der Flucht noch mal eben hier vorbeischauen? Glaubst du ehrlich, dass sie sich die Zeit genommen hätte?«

»Vermutlich nicht«, sagte Astrid. Ihre Stimme klang unsicher.

Sie sah über den Hof zu Susanne, die unbeschwert ihre Arbeit verrichtete.

»Wir erzählen deiner Schwester erst einmal nichts von dem Foto und dem ganzen Kram. Einverstanden?«

Sören sah zu Susanne rüber und nickte.

»Bleib einfach noch ein paar Wochen hier. Das hat doch ganz gut geklappt. Und deine Wohnung in Warnemünde kannst du noch bis Ende Oktober untervermieten.«

Sören dachte daran, dass er die Miete wirklich gut gebrauchen konnte. Er hatte sich von seiner Schwester und ihrer Frau Geld für den Kauf von Jettes Pferd geliehen. Diese Zusatzeinnahme könnte ihm dabei helfen, Goliath schneller abzuzahlen. Andererseits lebte er auf Susannes Kosten.

»Ich wohne in eurer Ferienwohnung, mit der ihr gerade nichts verdient.«

Astrid schüttelte den Kopf.

»Mach dir darüber keine Gedanken. Du hast Susanne den Hof überlassen … als sie ein zu Hause brauchte. Und du hast damals nichts von ihr haben wollen. Nicht einen Cent.«

»Ihr habt mich doch ausgezahlt.«

Astrid lächelte ihn an.

»Du hast zu wenig verlangt.«

Er holte Luft, um etwas zu sagen, doch seine Schwägerin ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Bleibt. Wir freuen uns, dass ihr hier seid. Wirklich!«

»Und was sagen wir Susanne? Wir wollten am Wochenende eigentlich wieder nach Hause.«

»Was weiß ich«, zischte Astrid. »Sag ihr, dass es euch hier gefällt, dass Jette mit Goliath mehr Zeit verbringen will, dass du wieder einen neuen Fall hast, der viel Zeit in Anspruch nimmt. Lass dir was einfallen. Aber sollte auch nur die kleinste Möglichkeit bestehen, dass die Brandt hinter dem Foto steckt, dann …«

Er hatte verstanden.

»Wir bleiben. Ich glaube nicht, dass ich mir da groß was einfallen lassen muss.« Sören sah zum Ausgang des Waldes rüber, aus dem Jette auf Goliath zurückgetrabt kam. »Ich sage Susanne, dass wir bis zum Ende des Monats bleiben, damit Jette mehr Zeit mit ihrem Pferd verbringen kann, ehe der Winter beginnt.«

»Das ist vermutlich das Beste. Dann müssen wir noch nicht einmal lügen.«

***

Nachdem Jette Goliath in den Stall gebracht und ihn versorgt hatte, ließ sie sich zwischen ihrem Vater und Astrid auf die Bank fallen. Ihre Haare waren zerzaust und auf ihrer Stirn glänzten kleine Schweißperlen. Vermutlich hatte sie Goliath noch trocken gewischt und ihn mit frischem Heu versorgt. Insgesamt hatte sie in den letzten Wochen hier einige Aufgaben übernommen, über die sich andere Teenager vermutlich eher beschwert hätten, doch Jette war eben anders. Obwohl sie jeden Abend total erschöpft ins Bett fiel, wirkte sie überglücklich. Das Leben auf Susannes Hof bekam seiner Kleinen.

»Hallo, Papa«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Hast du uns gesehen?«

Susanne setzte sich mit an den Tisch. Auch sie wirkte zerzaust und glücklich.

»Ich habe euch in den Wald galoppieren sehen. Schnell. Sehr schnell.«

Jette grinste. Den mahnenden Unterton in seiner Stimme schien sie zu überhören oder überhören zu wollen. Da war sich Sören nicht immer sicher.

»Goliath ist der Schnellste«, sagte sie voller Stolz und griff zum Glas ihres Vaters.

Noch ehe er seine Tochter vom Trinken abhalten konnte, hatte sie den Rest des heimischen Mosts geleert.

»Ihhh«, schrie sie laut aus und spuckte das Getränk zurück ins Glas. »Der Apfelsaft ist schlecht geworden.«

Astrid grinste. Susanne stand auf und nahm Jette das Glas aus der Hand.

»Nicht den«, sagte sie mit vorwurfsvollem Blick in Richtung ihrer Frau. »Es ist noch nicht einmal vier.«

»Sören wollte …«, verteidigte Astrid sich und zeigte dabei demonstrativ auf den Genannten.

»Ist doch nur Apfelwein«, murmelte er leise, als seine Schwester ins Haus ging.

Kurz darauf kehrte sie mit drei frischen Gläsern und einer Flasche kinderfreundlicher Apfelschorle zurück.

»Du hast ja noch«, sagte Susanne zu Astrid und sah sie dabei gespielt vorwurfsvoll an.

Sören nahm die Flasche vom Tisch und füllte die Gläser ein.

»Was haltet ihr davon …«, begann er, während er Jette ihr Glas reichte, »… wenn wir noch ein paar Wochen bei euch auf dem Hof bleiben?«

Jette und Susanne sahen ihn mit offenen Mündern an. Sören zuckte mit den Schultern und reichte Susanne ein Glas.

»Solange das Wetter noch so schön ist, dachte ich. Vielleicht bis Ende Oktober? So kannst du noch mehr Zeit mit Goliath verbringen. Würde dir das gefallen, Spatz?«

Jette nickte grinsend.

»Nur, wenn es euch passt. Das Geld für unsere vermietete Wohnung in Warnemünde kannst du natürlich haben«, stammelte er.

»Unsinn, das hatten wir doch schon.«

Seine Schwester stand auf und drängelte sich zwischen Jette und Sören mit auf die Bank. Die Bretter unter ihr ächzten.

»Ich freu mich doch, meinen kleinen Bruder hier zu haben«, sagte sie und drückte ihn dabei fest an sich. Sören tat so, als würde sie ihn zerquetschen. Er verzog das Gesicht und presste die Schultern ans Ohr. Jette lachte laut los. Astrid zwinkerte ihm zu.

»Was haltet ihr davon, wenn ich euch zur Feier des Tages zum Fischbrötchenessen am Strom einlade?«, sagte Sören, nachdem seine Schwester ihm aus dem Würgegriff entlassen hatte.

»Super«, sagte Jette mit der Energie eines Teenagers.

Susanne war dagegen noch nicht so überzeugt. Sie streckte ihre müden Knochen und sah hilfesuchend zu Astrid rüber.

»Komm schon«, forderte ihre Frau sie auf. »Die Jungs schlafen heute bei Freunden. Wie lange ist es her, dass wir ausgehen konnten? Lass uns einen draufmachen.«

Susanne rümpfe ihre Nase.

»Komm schon. Ich dachte, du freust dich, Zeit mit deinem kleinen Bruder zu verbringen. Lass uns einen draufmachen!«

Er zwinkerte Astrid zu. Susannes Augen formten Schlitze. Doch ihr Lächeln verriet, dass sie ihm nicht böse war.

***

Als sie um kurz nach halb sechs am Strom ankamen, war es nicht mehr ganz so voll wie noch wenige Stunden zuvor, als die Touristen eines großen Kreuzfahrtschiffs einer italienischen Flotte die Gassen der kleinen Stadt bevölkert hatten. Die Hupe des Schiffs signalisierte, dass es bald auslaufen würde. Viele Touristen warteten mit Kameras bewaffnet am hinteren Teil des Stroms, um die besten Fotos eines in See stechenden Ozeanriesens zu schießen.

»Backfisch Tilo?«, schlug Jette vor.

»Oder doch lieber zum Futterkutter?«, fragte Susanne.

»Ist das nicht egal?«

Abrupt blieben alle stehen. Astrid, die zwar schon seit Jahren an der Küste lebte, aber eben nicht aus der Gegend stammte, tappte immer wieder in solche Fettnäpfchen. Gleichzeitig prasselten Wortfetzen aus drei Richtungen auf sie ein.

»Das kannst du nicht vergleichen …«, sagte ihre Frau. Sörens dröhnende Stimme gab unterdessen »Tilo ist eben Tilo« von sich, während Jette nur kopfschüttelnd »Ist das nicht egal?« murmelte und dabei die Augen verdrehte.

Astrid hob die Hände. Das war ihr Signal dafür, wenn sie verstanden hatte, dass sie unterlegen war. In dieser Familie kam das häufig vor. Sörens Schwägerin schien sich damit abgefunden zu haben.

»Können wir nicht alle da unser Brötchen kaufen, wo wir wollen, und uns anschließend irgendwo zum Essen treffen?«, fragte sie und sah dabei hilflos in die Runde. Vermutlich ahnte sie da bereits, dass auch dieser Vorschlag nicht so gut ankommen würde. Doch statt lautem Geraune erwartete sie dieses Mal nur ein mitleidiges Kopfschütteln der Anwesenden.

»Und wenn wir in ein Restaurant gehen?« Susanne versuchte einzulenken. »Bei ­­Gosch oder so?«

Jetzt verzogen nicht nur Jette und Sören ihre Gesichter, sondern auch Astrid.

»Ich meine ja nur«, sagte Susanne und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hallo«, sagte plötzlich eine warme Stimme hinter Sören. Sein Magen zog sich zusammen. Die Stimme kannte er. Mit einer Mischung aus Vorfreude und einem Anflug von Panik drehte sich der sonst so souveräne Ermittler um und sah in das Gesicht einer sehr attraktiven Dame.

»Hallo«, grüßte er unbeholfen zurück und blieb danach stumm. Die beiden sahen sich sekundenlang an. Beide lächelten.

»Ja … äh … Ich wollte nicht stören«, sagte sie und sah dabei in die Runde. Auch sie schien etwas nervös zu sein. Mit einem Kopfnicken grüßte sie Jette, die Einzige, die sie kannte. »Ich wollte mich nur bedanken.«

Sie sah wieder Fries an und lächelte erneut.

»Wofür?«, fragte Sören, der überrascht von seiner Reaktion war, oder vielmehr darüber, dass er eben nicht reagiert hatte. Er hatte das Gefühl, die Frau anzustarren. Er wollte damit aufhören, konnte aber nicht. Was tat er hier? Schnell wandte er seinen Blick zum Boden.

»Sie sind unser Held … also, bei uns in der Schule. Oder vielleicht auch in der ganzen Gegend … Sie haben Jason befreit und Hannahs Mörder überführt.«

Sören kratzte sich am Hinterkopf. Wurde er etwa rot? Ein unsicherer Blick auf Astrid und Susanne verriet, dass er gerade vermutlich nicht das beste Bild von sich präsentierte.

»Ja, das … äh … ja, gern. Jederzeit. Ist ja auch mein Job … irgendwie«, stammelte er und bemerkte dabei das junge Mädchen an der Seite der Direktorin.

»Ihre Tochter?«, fragte er.

Frau Overbeck nickte.

»Ja, das ist Annie. Annie, das ist der Oberkommissar, von dem ich erzählt habe.«

Annies Reaktion auf ihn war weniger enthusiastisch. Sören drehte sich zu Jette um, die neben seiner Schwester stand und wie Susanne ihre Arme vor der Brust verschränkt hatte. Astrid sah dagegen deutlich entspannter und vor allem sehr viel amüsierter auf die Szene.

Er deutete auf die drei Frauen hinter sich.

»Das ist meine Familie. Zumindest ein Teil davon. Meine Tochter kennen Sie ja.«

Frau Overbeck nickte.

»Hallo, Jette.«

»Und das sind meine Frau und ihre Schwester«, fuhr er fort.

Frau Overbeck sah ihn überrascht an. Seine Tochter verdrehte die Augen und Astrid schmunzelte. Doch es war seine Schwester Susanne, die ihm zu Hilfe kam. Mit ausgestreckter Hand und kopfschüttelnd eilte sie auf die Direktorin zu: »Ich bin Sörens Schwester und das ist meine Frau. Mein kleiner Bruder ist manchmal etwas schusselig, aber sonst ein anständiger Kerl.«

Sören dachte über ihre Worte nach. Was hatte er zuvor gesagt? Seine Frau und ihre Schwester? Sein Magen drückte wieder. Er sollte das unbedingt mal untersuchen lassen, dachte er, als sich auch Astrid mit in das Gespräch einmischte.

»Sind Sie allein mit Ihrer Tochter unterwegs oder ist Ihr Mann auch dabei?«, wollte seine Schwägerin wissen.

Das hat sie doch jetzt nicht wirklich gefragt, dachte Sören. Errötete er etwa? Sören fasste sich an die Wange. Er konnte geradezu spüren, wie sich das Blut in den feinen Äderchen seines Gesichts ausbreitete.

»Paps, können wir jetzt. Ich habe Hunger.«

»Ja«, stimmte auch Annie ein. »Ich will nach Hause.«

Bevor einer der Anwesenden auf eine dumme Idee kam, sagte Sören: »Es war nett, Sie zu treffen. Und entschuldigen Sie meine Familie. Sie sind alle immer sehr neugierig und halten sich selten aus etwas raus. Vor allem dann, wenn es nicht ihre Angelegenheit ist.«

Frau Overbeck lächelte ihn an und sah danach verlegen zu Boden.

»Können wir jetzt?«, drängelte ihre Tochter.

»Vielleicht können wir uns mal ohne so viel Publikum treffen?«, fragte er und war von sich selbst überrascht.

»Auf einen Kaffee?«

Hatte er sie tatsächlich um ein Date gebeten?

»Ja«, sagte er knapp. »Kaffee oder Eis oder so«, stammelte er weiter.

»Rufen Sie mich an, wenn es passt.«

Er nickte grinsend. Sie lächelte zurück, drehte sich um und verschwand mit ihrer Tochter in Richtung Brücke.

»Hübsch«, bemerkte Susanne.

»Aber wir wissen immer noch nicht, ob sie einen Mann hat«, sagte Astrid und streckte ihren Hals für einen letzten Blick auf die Direktorin.

»Pscht«, zischte Sören und drehte sich dabei auch noch einmal um.

»Sie will mit ihm einen Kaffee trinken gehen oder etwa nicht«, sagte wieder Susanne.

Jette verdrehte die Augen. Sören schüttelte den Kopf.

»Tilo wäre da lang«, bemerkte er und deutete in die Richtung, in der Frau Overbeck mit ihrer Tochter gegangen war.»Der Futterkutter geht auch«, sagte seine Tochter deutlich verstimmt und stapfte in die Richtung des Fischimbisses davon.


Haben Sie Interesse am „Bienenmord“? Unter diesem Link können Sie das Taschenbuch bestellen.