Leseprobe: „Jetzt erst recht“


Granada im Winter 2002:

Vom Lebensretter zum Vegetarier

Wer hätte gedacht, dass ich mich nach dem ersten Jahr in Spanien für ein weiteres Jahr entscheiden würde? Ich mit Sicherheit nicht! Zumindest nicht die Karen, die ich noch vor zwölf Monaten gewesen war, als ich mit meiner besten Freundin Mona aufbrach, um Würstchen an hungrige Touristen in Andalusien zu verkaufen. Aber diese Karen gab es nicht mehr. Zu viel war in den letzten Monaten geschehen. Zu viele Rückschläge. Zu viele Diebstähle. Aber das alles zählte in meiner Erinnerung nicht. Schließlich lockte der Duft der Freiheit. Ein Duft, so süß wie Honig und so zart wie ein Schmetterlingskuss. Ich konnte nicht anders. Ich musste mein Abenteuer in Spanien um ein weiteres Jahr verlängern.

Mit Mona lebte ich in einem alten Campingbus, den wir Woody getauft hatten. Er war schon über zwanzig Jahre alt und klapperte an allen Ecken und Enden. Dennoch war dieses Gefährt von unvorstellbarem Wert für uns. Denn dank ihm konnten wir kostengünstig wohnten und das Land bereisen. Und das hatten wir im kommenden Jahr vor: Wir wollten Spanien kennenlernen! Aber nicht als einfache Touristinnen, sondern als Straßenkünstlerinnen, die Mona und ich seit vergangenem Sommer waren. Ein total neues und aufregendes Leben hatte damit für uns begonnen.

Den Winter hatten wir in Granada verbracht. Wir hofften, im Süden Spaniens auch während dieser Monate ein wenig Geld verdienen zu können. Aber Temperaturen um den Gefrierpunkt erlaubten uns nur selten, in den Straßen der Stadt als lebende Statuen aufzutreten. Dafür fand ich hier endlich die Zeit und vor allem die nötige Ruhe, meiner wirklichen Leidenschaft, dem Schreiben, nachzugehen. Wenn wir nicht in der kleinen Gasse vor der Kathedrale die Touristen abfingen, das Kleingeld in der Bank tauschten, Wasser aus dem Brunnen holten oder ein Waschcenter aufsuchen mussten, da man in einem Wohnmobil ja keine Waschmaschine hat, gönnte ich mir jeden Tag zwei Stunden, um in den Gassen von Albaicín in einer kleinen Teestube sitzend meine Geschichten zu Papier zu bringen.

Mona nutzte ihre freien Stunden, um ‚sich zu finden‘ oder so was in der Art. Sie meditierte oft oder machte Yoga. Wenn ich abends von meinen Schreibausflügen zurückkehrte, kochten wir zusammen, planten unser nächstes Jahr, machten es uns mit einem Kräutertee gemütlich, lasen uns gegenseitig Geschichten vor oder spielten Backgammon, so wie an diesem Abend. Unser Leben war schön. Vor allem war es schön ruhig.

„So müssen unsere Urgroßeltern gelebt haben, als es noch keinen Fernseher gab und die Leute stattdessen mehr Zeit mit ihren Familien verbracht haben.“

„Na ja, so ähnlich vielleicht“, antwortete Mona, während sie im Radio nach einem Sender suchte. Ich hatte in der Zwischenzeit das Backgammonbrett und die Steine aufgebaut. Fragend sah ich zu meiner Freundin rüber.

„Es gab damals auch kein Radio. Damals war auch nicht alles besser“, erklärte Mona, nachdem sie meinen Blick wahr­ge­nommen hatte. Sie steckte sich ein Stück Nugatschokolade in den Mund. Noch während sie kaute, sagte sie: „Die gab es damals nämlich auch nicht!“

„Klar, damals war nicht alles besser. Wir haben mittlerweile Impfstoffe und Autos. Und natürlich auch Schoki.“ Ein Leben ohne Schokolade? Ich versuchte, es mir vorzustellen. Es ging nicht. „Ich sage ja nicht, dass Fortschritt im Allgemeinen schlecht ist, aber ich glaube, dass mir das vergangene Jahr dabei geholfen hat, die guten Sachen von den schlechten zu unterscheiden.“

„Und das Fernsehen gehört zu den schlechten Dingen?“, fragte meine Freundin.

Ich hasste es, wenn mir Mona meine eigenen Aussagen zurück an den Kopf knallte. Natürlich meinte ich das nicht so generell, sondern hätte es mit viel mehr ‚Wenns‘ und ‚Vielleichts‘ formuliert. Aber so war sie nun einmal. Mona hatte die Welt gerne klar strukturiert.

„Irgendwie schon“, antwortete ich deshalb nur knapp.

Mona goss uns heißen Tee nach und setzte sich dann auf die andere Seite des Spielbretts. Aus dem Radio dudelte ein Lied der spanischen Band ‚La Oreja de Van Gogh‘. Ich nahm mir die Würfel, schüttelte sie in meiner Hand, hielt dann aber doch noch einmal inne.

„Unsere Welt ist zu schnell geworden. Das Reisen, die Informationsflut, der Alltag, die Arbeit. Überall hetzen sich die Menschen ab. Sie kommen kaum noch zur Ruhe.“

„Und?“

„Ich will dahin nicht wieder zurückkehren“, erklärte ich und ließ die Würfel zwischen uns auf den Tisch fallen.

„Egal, was nach diesem Jahr passiert. Ich werde mich nie wieder so hetzen lassen.“

„Das ist doch gut, so ein Entschluss“, meinte Mona, die jetzt die Würfel an sich nahm. „Du musst noch setzen. Sorry, natürlich erst, wenn du soweit bist!“

Unsere Blicke trafen sich und ich musste schmunzeln.

„Ich weiß, was du meinst“, fuhr Mona fort, während ich auf dem Brett in die Offensive ging. „Wir sollten uns für das kommende Jahr vornehmen, dass unsere Arbeit nicht wieder die Oberhand gewinnt. Wir brauchen Geld zum Reisen und sollten auch etwas für den kommenden Winter zurücklegen, damit wir nicht, wie in den vergangenen Wochen, bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt arbeiten müssen.“

Ich nickte entschieden. Mona fuhr fort.

„Vor allem sollten wir uns nicht so oft bestehlen lassen. Im letzten Jahr haben wir doch fast nur für die Diebe gearbeitet.“

Auch damit hatte meine Freundin recht.

„Wir sollten unsere Reise nutzen, um mehr über die Spanier zu erfahren. Die Kultur, das Land und so. Und wenn ich über unsere Abenteuer schreiben will, brauche ich auch im Sommer jeden Tag wenigstens zwei Stunden Zeit“, erklärte ich Mona.

„Und ich will weiterhin Yoga machen und meditieren.“

„Deine Mitte finden?“

Mona lächelte.

Wir reichten uns die Hand darauf. Nichts sollte uns im kommenden Jahr hetzen. Schließlich war es unsere Entscheidung, wie viel wir arbeiten würden und wie viel Zeit wir uns zur freien Verfügung gönnten. Künstlerinnen zu sein, war schon was Feines!


Unser Vorhaben, uns nicht hetzen zu lassen, lag jedoch mit unserem Gewissen, das keinen Müßiggang erlaubte, ständig im Clinch. Meistens siegte das Gewissen, sodass wir jeden Tag für ein paar Stunden unserer Arbeit als lebende Statuen nachgingen, auch wenn unser Verdienst im Januar unter normalen Umständen nicht sehr motivationsfördernd gewesen wäre. Nach dem opulenten Weihnachtsfest waren allerdings auch diese wenigen Münzen ein gewisser Anreiz, da unser finanzielles Notfallpolster auf ein historisches Tief geschrumpft war. Angesichts dieser Lage musste mein ‚freies‘ Künstlerleben, in dem ich meine Arbeitszeiten selbst einteilen konnte, erst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben werden.

Der Weg in die Stadt führte uns durch eine Einkaufsstraße, in der sich unter anderem eine Zoohandlung befand. Vor den Weihnachtstagen hatten sich hier unzählige Hamster, Kätzchen, kleine und große Hundewelpen, Reptilien und Vögel jeder Form und Farbe in dem Schaufenster getummelt. Nach dem Weihnachtsgeschäft war die Auslage deutlich geschrumpft.

Fast jeden Tag blieben wir nach unserer Arbeit einen kurzen Moment vor dem Geschäft stehen. Mona liebte Tiere. Ich fand sie auch ganz amüsant. Ein weißgraues Kätzchen jagte seinem Schwanz hinterher, ein Chamäleon versuchte, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, und auf der rechten Seite, ganz außen im Schaufenster, hockte eine Kreatur, die weder Mona noch ich jemals zuvor gesehen hatten.

„Kein Wunder, dass den keiner haben will. Der ist ja so was von hässlich!“ Mona strafte mich für diese Aussage mit einem finsteren Blick.

„Er ist nicht hässlich. Ein wenig besonders vielleicht, aber nicht hässlich.“

Ich versuchte, ‚das Besondere‘ zu erkennen, das Mona in dem Tier sah, schaffte es aber nicht. Es war eine graue, über­dimensional große Maus mit Puschelschwanz, die in der Ecke ihres Käfigs hockte. Die Pfoten hatte das Tier auf das Gitter vor sich gelegt und sah dabei lethargisch auf das Treiben der Straße. Die Augen waren zu kleinen Schlitzen geformt. Es wirkte so, als hätte sich das Geschöpf mit seinem Schicksal abgefunden: lebenslänglich Gefängnis!

Wenn es nicht bald einen neuen Besitzer erhielt, wäre es nicht mehr jung genug, um niedlich zu sein, was seine Verkaufschancen weiter verringerte. Es war und blieb nun mal hässlich.

„Lass uns reingehen“, sagte Mona, die bereits die Tür halb geöffnet hatte.

„Und dann?“, fragte ich, aber da war es schon zu spät. Mona war bereits im Geschäft verschwunden. Strammen Schrittes ging sie auf den Verkäufer zu und zeigte auf das Häufchen Elend im Schaufenster. Ich schob unsere Karren mit den Arbeitssachen an den Gehwegrand, um dann Mona wie gewohnt zu folgen.

„Das ist ein Chinchilla. Ein Nagetier aus Südamerika. Ganz pflegeleicht. Was hältst du davon, wenn wir ihn befreien?“, fragte Mona, noch ehe die Tür hinter mir zugefallen war.

„Bist du verrückt? Was wollen wir mit einem Chin-, Chin-Chin, Chin-Dingsda?“

„Chinchilla! Guck doch mal, wie niedlich der guckt“, sagte Mona und legte dabei ihren Kopf zur Seite. „Wir können ihn doch nicht einfach hierlassen.“

„Natürlich können wir das!“, antwortete ich, ohne zu verbergen, wie genervt ich von ihrer Idee war. Das kleine graue Haarknäuel sah mich unterdessen mit seinen großen Knopfaugen an. Selbst Kim Jong-ils Herz hätte dieser Blick erweicht. Schnell sah ich zu meiner Freundin auf, um mir meine Schwäche nicht anmerken zu lassen. Aber es war zu spät. Mona hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck angenommen, wie der des kleinen Herzensbrechers im Käfig.

„Was soll er denn kosten?“, fragte ich den Verkäufer.

„90 Euro das Tier. Dann kommt natürlich noch ein geeigneter Käfig hinzu. Ein wenig Stroh, das Futter, ein Spezialfutter für Chinchillas, eine kleine Wasserflasche…“

Der Mann schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, die Dinge aufzuzählen, die wir kaufen mussten, um diesem Tier ein gemütliches Heim zu bieten. Die Endsumme von knapp 150 Euro wäre mir dabei fast entgangen.

„Bist du verrückt?“, wiederholte ich meine anfängliche Frage, jetzt jedoch mit deutlich mehr Nachdruck. Aber da hatte ich den kleinen Chinchilla schon auf meinem Arm sitzen, der sich daran machte, in meiner Armbeuge Schutz zu suchen. Verdammt! Wie hatte der Verkäufer das Tier so schnell aus dem Käfig geholt?

Monas Gesicht sah nun wie das von älteren Damen aus, wenn sie in einem Kinderwagen einen menschlichen Frischling erspähten.

„Ist er nicht süß? Guck mal, wie lieb er dich hat!“, gluckste Mona.

„Lieb? Wahrscheinlich ist ihm nur kalt“, sagte ich, während ich das Biest auf meinem Armen zu streicheln begann.

„Und was willst du mit ihm machen? Wir reisen in einem winzigen Wohnmobil. Wo soll der Käfig hin? Und Auslauf kriegt er auch keinen. Vom Geld will ich ja noch nicht einmal reden.“

„Der Käfig kommt auf meine Seite der Sitzbank, für den Auslauf kaufen wir ihm eine Leine und das Geld haben wir im Moment doch, oder?“, sagte Mona, während sie mir das Tier abnahm und mit ihm zu kuscheln begann. Für sie schien es das Normalste auf der Welt zu sein, einen Chinchilla mit in ein Wohnmobil zu nehmen. „Wie weich der ist. Da kann man die Frauen fast verstehen, die solche Pelze als Jacken tragen.“

Monas Blick traf ebenso wie die von ihr wohlgewählten Worte mitten in mein Herz. Mein sonst eher spärlich ausgeprägter Mutterinstinkt war geweckt.

„150 Euro“, grummelte ich, während ich aus unserem Gemeinschaftsportemonnaie die Kaufsumme herauskramte. Mit dieser Rettungsaktion hatte sich meine Freundin wieder einmal selbst übertroffen.

„Wenn wir in Deutschland sind, schenken wir Monti einfach meiner Nichte“, erklärte Mona. „Dann haben wir nicht nur eine gute Tat vollbracht, sondern gleich zwei Herzen glücklich gemacht.“

„Monti?“, fragte ich.

„Ja, ein schöner Name für den Kleinen, findest du nicht? In Südamerika leben die Chinchillas in bergigen Regionen. La montaña. Der Berg“, erklärte meine Freundin die Namenswahl, während sie Monti den Bauch kraulte.

150 Euro waren kein zu teurer Preis, um ein Leben zu retten. Zumindest waren wir uns in diesem Punkt einig. Ob ihre elfjährige Nichte allerdings die bessere Alternative für den kleinen Südamerikaner war, als die zwölf bevorstehenden Monate des tristen Wartens hinter Gittern auf eine neue Chance beim nächsten Weihnachtsfest, musste sich erst herausstellen.

Ich schüttelte meinen Kopf, wusste ich doch, dass der kleine Fratz uns schon in dem Moment um den Finger gewickelt hatte, in dem wir die Zoohandlung betreten hatten. Wahrscheinlich gab es so etwas wie Schulungen für alle Tiere, die über solche Geschäfte in Bargeld umgewandelt werden sollten. Schulungen, in denen die Tiere diesen herzzerreißenden Blick erlernten, der von ihnen abfiel, sobald sie die Türschwelle eines neuen Heims betraten, da sie von da an zu kleinen Despoten in ihrer neuen Gemeinschaft mutierten. Resigniert folgte ich dem Verkäufer in den hinteren Teil des Ladens, in dem ich bezahlte. Zufrieden sortierte der Mann unser hart verdientes Geld in seine Kasse, ehe er das Reiseset unseres neuen Teammitglieds zusammenstellte. Monti hatte ja keine Ahnung, worauf er sich da eingelassen hatte.


Kurz darauf verließen wir die Zoohandlung mit einer riesen Tüte vollgestopft mit Chinchillautensilien, einem gigantischen Käfig und einer kleinen Pappschachtel, in der sich der kleine Kauz ohne großes Murren hatte stecken lassen. Ich fragte mich, wie viel Leben in dem Wesen noch steckte. Andere ‚wilde‘ Tiere wehrten sich für gewöhnlich gegen solche Zwangsmaßnahmen mit einem Knurren oder einem angedeuteten Fauchen. Unser Chinchilla hätte einen Knopf im Ohr haben können, so wenig Leben steckte in ihm. Dennoch: Jetzt war Monti ein Teil unseres Rudels und wir würden ihn wieder aufpäppeln. Sobald wir in unserem Bus waren, würden wir alle Löcher stopfen, die groß genug waren, um eine Megamaus verschwinden zu lassen. Dann würden wir ihn laufen lassen und dieses kleine Kerlchen würde wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben die Freiheit eines fahrenden Wanderklos in der Größe von 3 mal 1,5 Metern erleben.

Zu Hause angekommen, verstaute ich schnell die Arbeitskisten im Hänger, während Mona sich bereits um den Käfig kümmerte, dort Stroh auslegte, die Wasserflasche einbaute und den Napf mit einer Art Chinchillakraftfutter befüllte. Zu guter Letzt setzte sie Monti vorsichtig hinein.

Mit einem großen Rumms schloss ich hinter mir die Schiebetür unseres Busses. Der Wollknäuel zuckte zusammen.

„Leise!“, flüsterte Mona so nachdrücklich, als hätte sie es geschrien.

„Die Tür eines über zwanzig Jahre alten Bussen schließt sich nun mal nicht so wie die einer Mercedes-S-Klasse“, antwortete ich.

Mein Blick fiel auf unseren Mitbewohner, der es sich gerade hinter seinen neuen Gittern gemütlich machte. Schweigend sahen wir dabei zu, wie er sein neues Heim erkundete, an der Wasserflasche schnupperte und einen kurzen Zwischenstopp am Napf einlegte. Er aß nicht. Monti schien zu überlegen. Vielleicht überlegte er auch nicht. Schließlich gehörten Nager wie er auf der Leiter unserer Nahrungskette ganz nach unten. Wie konnte man da also vom Nachdenken reden. Aber irgendetwas in ihm schien zu arbeiten.

Hoppelnd näherte er sich dem Gitter, legte seine Pfötchen zum Abstützen darauf und sah uns an. Er starrte nicht teilnahmslos ins Nichts, so wie wir ihn in der Zoohandlung gesehen hatten. Er sah uns tatsächlich an. Nach rechts zu Mona und dann in meine Richtung.

„Lächelt er?“, fragte ich.

Mona legte ihren Kopf zur Seite, ehe sie antwortete.

„Sieht so aus, oder?“

„Tiere lächeln doch nicht?“

Was wir in dieses Würmchen hineininterpretierten, war wirklich mehr als albern. Es war an der Zeit zu essen. Und ich war mit dem Kochen dran. Ich ging in die Küche, zwei Schritte um genau zu sein, und betrachtete unsere Essensvorräte.

„Sieht nach Nudeln mit Tomatensoße aus“, stellte ich kurz darauf fest.

„Haben wir noch eine Möhre oder so was?“

„Für die Nudeln?“, fragte ich.

„Für ihn“, erklärte Mona und deutete dabei auf Monti.

„Er hat doch was zu essen. Warum isst er das nicht? Das war teuer, das Zeug. Irgend so eine Spezialmischung für diese Wüstenratten.“

„Sie kommen nicht aus der Wüste, sondern aus den Bergen. Außerdem mag er das nicht. Guck mal, wie traurig er guckt.“

Ich drehte mich zu Mona um, um ihr zu erklären, dass Bergnager keine Emotionen haben, sondern lediglich existieren und dementsprechend nicht traurig gucken können. Da sah ich Monti.

„Wow“, entfuhr es mir.

George Clooney hätte von der Mimik unseres kleinen Freundes noch einiges lernen können. Ich griff zur Schublade, nahm ein Messer heraus und schnitt ein Stück von unserem letzten Apfel ab. Die Scheibe schob ich neben Monti vorsichtig durch das Gitter. Er schnupperte dran, nahm mir die Scheibe aus der Hand und begann zu futtern.

„Wow“, wiederholte ich.

Innerhalb von dreißig Sekunden war das Apfelstück verschwunden.

„Der hatte wohl Hunger“, sagte Mona, während ich immer noch mit einer Mischung aus beeindruckt und verängstigt auf den Nager starrte.

„Er isst doch kein Fleisch, oder? Nicht, dass er so etwas wie ein hoppelnder Piranha ist.“

Mona sah zu mir auf. Ich hatte immer noch das Messer in der Hand. Ursprünglich nicht als Schutz, aber so schnell, wie Monti den Apfel inhaliert hatte, fühlte ich mich auf einmal mit dem Messer in der Hand deutlich wohler.

„Wir wissen nichts von ihm. Wir hätten uns vorher erkundigen müssen.“ Erwartungsvoll sah mich Monti an.

„Gib ihm noch eine Scheibe“, sagte Mona, die todesmutig ihren Finger in den Käfig steckte, um Montis Hals zu kraulen.

„Hast du keine Angst?“

„Du hast ihn in der Zoohandlung auf dem Arm gehabt. Was soll er tun? Uns nachts überfallen und die Kehlen durchschneiden?“

Mona war viel zu naiv. Der Wollknäuel war ein Schauspieler und viel intelligenter, als ich es jemals von einer Fellmaus erwartet hätte. Vielleicht würde er uns nicht die Kehlen durchschneiden, sondern nur unseren Bus stehlen, um seine Artgenossen aus den Zoohandlungen des ganzen Landes zu befreien.

Ich schnitt eine weitere Scheibe vom Apfel ab, die Mona in den Käfig schob. Monti nahm ihr das Stückchen ab, nicht hektisch oder aggressiv, sondern eher vorsichtig und fast ein wenig höflich. Als ob er meine Gedanken lesen konnte. Es war unheimlich.

„Ich geh’ kochen“, sagte ich und wandte mich wieder der Küche zu.

Innerhalb von zwanzig Minuten hatte ich unser Abendessen gezaubert. Mona hatte in der Zwischenzeit mit Monti gespielt, ihn gekrault und ihn mit zwei weiteren Apfelstückchen gefüttert.

„Gut jetzt“, sagte ich beim letzten Stück. „Nicht, dass er Durchfall kriegt.“

Während ich die Teller auffüllte, setzte Mona ihren neuen Freund in den Käfig. Die dampfenden Nudeln standen vor uns auf dem Tisch und Monti setzte sich in seiner Lieblingshaltung an das Gitter. Wieder sah er zu uns beiden rüber.

„Beobachtet er uns?“, fragte ich immer noch mit einer Portion Skepsis.

„Na ja, viel gibt es ja nicht, was er in so einem Käfig machen kann.“

Während meine Freundin Monti einen herzlichen Blick zuwarf, drehte sie die Spaghetti auf ihre Gabel.

„Guten Appetit“, sagte Mona zu mir und schob sich danach die dampfenden Tomatennudeln genüsslich in den Mund. Schmatzend murmelte sie: „Lecker.“

Monti beobachtete das Ganze aus einer eher ungünstigen Perspektive. Er reckte seinen Hals, so als ob er ahnte, dass wir da Futter auf dem Tisch aufteilten.

„Nichts für dich“, sagte ich zu ihm und schob mir ebenfalls einen riesigen Berg italienischer Teigwaren in den Mund.

„Was können wir ihm denn sonst noch geben? Neben Äpfeln und Möhren und so?“, fragte Mona.

„Das teure Kraftfutter aus der Zoohandlung!“

„Aber das mag er doch nicht“, begann Mona, als mir langsam dämmerte, was da gerade geschah. Monti war noch keine zwei Stunden bei uns, schon spielte er uns gegeneinander aus. Klassisch. Welches Kind versuchte so etwas nicht bei seinen Eltern? Aber nicht mit mir! Schließlich waren wir Menschen und damit Tausend Mal, was sage ich, Trillionen Mal intelligenter als der kleine Südamerikaner hier. Nichts da! Wir hatten seine Spezialnahrung gekauft und er würde jeden einzelnen Krümel aus der Packung futtern, bis auch das letzte Kraftfutterpellet in seinem Magen verdaut wäre und danach als trockener Chinchillaköttel wieder das Licht der Welt erblickt.

„Nichts da! Ein bis zwei Leckerlis am Tag sind okay. Aber ansonsten wird gegessen, was auf den Tisch, in seinem Fall in den Napf kommt.“

Das mit dem ‚solange er seine Füße unter unseren Tisch stellt’ konnte ich leider nicht bringen, aber auch so kamen meine Worte bei Mona und ihrem neuen Freund an. Beide sahen zu mir rüber, als ob mir ein zweiter Kopf gewachsen wäre. Aber mich scherte das nicht. Ich widmete mich wieder meinen Nudeln.

Mona sah Monti an. Hatten sie sich da gerade zugenickt? Nein, ich musste aufhören, dieses Tier zu vermenschlichen. Er war ein Nager. Mehr nicht. Gut. Er war ein Nager, der jetzt in unserem Bus lebte. Aber das war alles. Mona hatte jetzt einen neuen Spielkameraden und ich hatte damit wieder mehr Zeit, mich meinen Geschichten zu widmen.


Am nächsten Morgen wurde Mona früh wach. Sie ging in die Küche, setzte Wasser auf und holte sich Monti aus dem Käfig. Ich drehte mich noch einmal im Bett um und versuchte, die Augen wieder zu schließen.

„Na, du kleine Maus. Hast du gut geschlafen? Wie war deine erste Nacht bei uns, hm?“

„Er wird dir nicht antworten“, grummelte ich und zog die Bettdecke über meinen Kopf.

„Er antwortet auf seine Art“, widersprach Mona.

Ich überlegte, ob es nicht doch ein Fehler war, die Sache mit der guten Tat und dem Leben retten, verwarf diesen Gedanken aber schnell wieder. Überall auf der Welt war es für Monti besser als am Kragen einer überkandidelten Neureichen.

Vorsichtig reckte ich meinen Kopf und sah dabei die beiden ‚Ms‘ (Mona und Monti), wie sie sich die Nasen entgegenstreckten. Der kleine Chico wusste eindeutig, wie man die Herzen der Mädels eroberte. Im Hintergrund kochte das Wasser.

„Halt mal“, sagte Mona, die mir Monti in das Bett hochreichte. Schnell huschte sie zum Herd und füllte die wartenden Becher mit heißem Wasser auf. Ich hielt unterdessen Monti mit ausgestreckten Armen. Er reckte seinen Hals und schnupperte mit seiner Nase, wie er es zuvor bei Mona getan hatte, als die beiden kurz darauf ihre Nasen berührten.

„Ist das so eine Art Begrüßungsritual bei euch?“, fragte ich Monti. Aber statt mich darüber zu ärgern, dass ich ebenfalls mit ihm redete, obwohl er mich ja nicht verstehen konnte und es deshalb totaler Schwachsinn war, streckte ich ihm meine Nase entgegen, sodass unsere beiden Nasenspitzen kurz aneinander stupsten. Erschrocken zog ich meinen Kopf zurück. Monti lächelte.


Nachdem wir fast unsere gesamten Geldreserven für unseren neuen Mitbewohner ausgegeben hatten, suchte ich unsere restlichen Münzen zusammen, die wir in der vergangenen Woche verdient hatten. Ich schätzte den kleinen Beutel auf knapp 80 Euro. Da unsere Einkünfte im Januar 2002, also dem Jahr der Euroeinführung, aus einer Mischung alter Peseten und neuer Euros bestanden, war ich mir da nicht ganz sicher.

„Wie sieht es aus?“, fragte Mona, die mir beim Sortieren der Münzen über die Schulter sah.

Als Antwort entfuhr mir ein Seufzer, der unsere finanzielle Situation auf den Punkt brachte.

„So schlimm?“

„Wir müssen zur Bank, die Peseten tauschen. Wir haben fast nur noch diese Mini-5-Peseten-Münzen“, sagte ich und wich damit der deprimierenden Frage meiner Freundin aus.

Mona sagte zum Glück nichts gegen den bevorstehenden Ausflug in die Stadt. Ich hatte erwartet, dass sie im Bus bleiben wollte, da der Kleine allein im Bus sonst Angst hätte oder so etwas in der Art. Aber bevor sie überhaupt den Mund öffnen konnte, fügte ich noch hinzu: „Wir müssen auch ins Internetcafé. Schließlich wissen wir nichts über unseren neuen Mitbewohner. Was Chinchillas essen dürfen? Worauf man achten muss? Und überhaupt.“

Um schneller wieder zu Hause zu sein, teilten wir uns auf: Mona ging in das Internetcafé und ich in die Banco de España.

Obwohl ich wusste, dass Bankbesuche in Spanien etwas länger dauern konnten, machte es mir normalerweise nichts aus, diesen Teil unserer Arbeit zu erledigen. Meistens nahm ich mir ein Buch mit, um die halbe Stunde zu überbrücken, die man gerne mal in der Schlange vor einem Kassenschalter warten musste.

Die Tage im Januar 2002 waren in dieser Hinsicht jedoch anders. Die Leute benahmen sich total verrückt. Die einen konnten es nicht abwarten, all ihre Peseten in die neue Währung zu tauschen, und die anderen zahlten noch lange nur in der altbekannten Pesete und verweigerten jede Annahme dieses unbekannten neuen Zahlungsmittels, als könnte man dem Ganzen entkommen.

In unserem Hut fanden wir anfänglich nur wenige Euros. Das steigerte sich jedoch von Tag zu Tag. Vor allem die ausländischen Touristen begrüßten es, mit der neuen Währung zahlen zu können. Damals wusste ich noch nicht, was ich vom Euro halten sollte. Ich sah mir mit einer Mischung aus Neugierde und dem Wissen, dass wir Zeugen eines historischen Ereignisses waren, diese funkelnden Münzen an.

In den Geschäften konnte man sowohl mit der Pesete als auch mit dem Euro zahlen. Dass viele Spanier ihrer alten Währung noch lange den Vorzug gaben, zeigte sich auch in den meisten Supermärkten, die auf ihren Schildern bis weit in den Sommer hinein den Preis in Peseten groß auswiesen, aber nur klein, an einer winzigen Ecke, den Europreis abdruckten.

In einer Falafelbude in Albaicín verweigerten die Inhaber gut anderthalb Monate nach Einführung des Euros immer noch die Annahme dieses Zahlungsmittels. Sie bestanden auf ihren Peseten. Vielleicht war es das intuitive Wissen darum, dass die Währung auf einem wackeligen Fundament baute.

Ich stand also mit meinem Beutel Pesetenmünzen in der Banco de España und überlegte, welcher der beiden mir endlos erscheinenden Schlangen ich den Vorzug geben sollte. Am anderen Ende der Halle erkannte ich über den Kassenschaltern je ein Schild hängen: „Pesetas – Euros“ und „Euros“. Ich stellte mich in die Reihe „Pesetas – Euros“ und versicherte mich bei dem Herrn vor mir, in meinem immer noch etwas holprigen, aber mittlerweile akzeptablen Spanisch, dass ich auch wirklich in der richtigen Reihe stand.

In der zweiten Schlange, an der anderen Kasse, stand auf etwa gleicher Höhe mit mir ein Mann, der sichtlich aufgeregt war. Gut, niemandem gefällt es, seine Zeit mit Warten zu verbringen. Aber eigentlich wusste man doch, worauf man sich einließ, wenn man in Spanien zur Bank ging. Einige Leute telefonierten, um die Zeit zu überbrücken, ein Mann machte Kreuzworträtsel und eine ältere Dame hatte sich sogar einen Hocker mitgebracht, den sie immer ein Stück nach vorne schob, wenn sich die Schlange in Bewegung setzte. Ich hatte mich auch auf das lange Warten vorbereitet. In meinem Rucksack befand sich eine druckfrische Ausgabe des neuen Romans von T.C.Boyle, „Ein Freund der Erde“, auf dessen Lektüre ich mich schon richtig freute.

Ich hatte das Buch in der Hand und las die ersten Zeilen. Boyle war ein Genie. Ich bewunderte seinen Stil, die Wortwahl, mit der er komplexe Dinge auf den Punkt brachte. Aber irgendetwas in dem Raum ließ mich nicht in das Buch eintauchen. Ich sah auf. Die Unruhe des Mannes, der in der anderen Reihe gut acht Meter entfernt wartete, drang bis zu mir vor. Wie konnte man nur so zappelig sein? Der Typ starrte immer wieder auf seine Uhr, ging drei Schritte nach rechts, dann drei nach links, gerade mal so weit, dass er seinen Platz in der Schlange nicht verlor. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, dass er Deutscher wäre. Er sah irgendwie nach einem Studienrat im Survivaloutfit aus. Vor allem seine Multifunktionsjacke war nicht typisch für Spanier. Warum sollte sich aber ein Deutscher in die Schlange stellen, in der man nur Euros tauschen konnte? Geschäftsleute besorgten sich hier ihr Wechselgeld. Aber nach einem Geschäftsmann sah der hibbelige Typ wirklich nicht aus.

Ich versuchte, mich wieder in mein Buch zu vertiefen. Der Mann würde schon wissen, was er wollte. Oder würde sich jemand in eine so lange Schlange stellen, ohne zu wissen, ob er richtig stand? Es ging mich nichts an, sagte ich mir schließlich und konzentrierte mich auf die Zeilen vor meiner Nase.

Nach dem ersten Kapitel sah ich erneut von meinem Buch auf. Ich war in der Zwischenzeit zwei Meter nach vorne gerückt. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie der Mann mit seinem Handy telefonierte. Er hatte mittlerweile rote Flecken im Gesicht, die nicht auf die Hitze in dem großen Saal zurückzuführen waren. Mit ausladenden Armbewegungen untermalte er das Telefonat. Ich stellte es mir nicht besonders amüsant vor, am anderen Ende der Leitung zu sein. Wieder ein Blick auf die Uhr, das Handy weggesteckt und weiter mit dem hektischen Laufen. Ich klappte mein Buch zu und kramte stattdessen meinen Notizblock hervor.

Solche Menschen waren von unschätzbarem Wert für Leute wie mich, also angehenden Schriftstellern. Ich konnte sie ungeniert beobachten und eine Charakterstudie entwickeln, vor allem dann, wenn ich lange in einer Schlange warten musste. Ich konnte mir Geschichten zu ihnen ausdenken und meine Menschenkenntnis an ihnen schärfen. Ich stellte ihn mir mit einer großen roten Schleife auf dem Kopf vor, so einer Art Präsent für mich, der angehenden Bestsellerautorin, die jede noch so kleine Möglichkeit des Schreibens für sich zu nutzen suchte. Ich war geradezu entzückt von seiner für mich nicht alltäglichen Anspannung, dass die Gedanken, die ich mir zu ihm und seiner Lebensgeschichte machte, wie von alleine aus mir heraussprudelten.

In meiner Kurzgeschichte war der Mann kein spanischer Geschäftsmann, sondern ein deutscher Gymnasiallehrer. Wahrscheinlich hatte er in der Schreibtischschublade seines sperrigen Eichenholztisches, den er von seinem Vater geerbt hatte, einen alten Pesetenschein entdeckt. Vermutlich schlummerte der Schein schon eine Weile dort. 17 Jahre, dachte ich mir. Der Typ schmiss nichts weg. In dieser Eichenholz­schublade schlummerte also der Pesetenschein mit anderen Leidensgenossen, vielleicht aus Thailand, Costa Rica, Finnland und so weiter. Der Mann kam in seinen Urlauben sicher rum. Da er bereits mehrmals telefoniert hatte, während wir in der Bank warteten, und seine Gespräche äußerst emotional geführt wurden, war er wohl mit seiner Familie in Granada. Eine Frau. Zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen vermutlich. Bei ihm musste alles seine Ordnung haben.

Ich überlegte kurz, ob ich mir meine Einschätzung von ihm bestätigen lassen sollte, entschied mich aber dagegen, da mittlerweile Rauch aus seiner fiktiven Schleife entwich. Ich bin kein guter Blitzableiter. Das war ich noch nie. Außerdem klingelte in diesem Augenblick mein Handy.

„Karen?“

„Ja, Mona. Was gibt’s?“

„Ich bin mit dem Internet fertig. Jetzt wollte ich noch ein paar Sachen einkaufen. Für Monti, weißt du?“

Automatisch verdrehten sich meine Augen.

„Ja, und?“

„Ich wollte fragen, ob du schon fertig bist und ob du mitkommst?“

Ich sah auf die wartenden Menschen um mich herum und schätzte, dass die zwanzig Leute vor mir noch mindestens eine Stunde Geduld erforderten.

„Das dauert bei mir noch. Mindestens eine Stunde. Danach geh‘ ich einen Kaffee in der kleinen Bar trinken, in der es die leckeren Schinkenkroketten gibt. Da kannst du ja auch hinkommen.“

„Und der Einkauf?“

„Den machen wir auf dem Weg nach Hause. Wir brauchen auch noch was für‘s Abendbrot.“

„Gut“, sagte Mona und legte auf.

Ich beobachtete weiter mein ‚Geschenk‘, machte Notizen, aber schon bald hatte ich das Interesse an ihm verloren. Der Typ war mir zu negativ. Viel interessanter fand ich die alte Dame, die jetzt zum Schalter aufrückte. Sie war gut einen Kopf kleiner als ich, mit einem Hauskittel und Hausschuhen bekleidet und kramte aus einer vergilbten Plastiktüte einen Bündel Pesetenscheine nach dem nächsten hervor. Aus den ersten Notizen zu der Frau entwickelte ich schnell die Idee zu einer Geschichte. Ich fragte mich, wie ihr Leben aussah? Wo das Geld herkam? Vielleicht hatte sie es jahrelang unter ihrem Kopfkissen aufbewahrt, und ich endete meine Geschichte schließlich damit, dass sie ihr hart verdientes Geld zu Hause wieder unter ihrem Kopfkissen deponierte. Ich überlegte noch, ob ich das Ende vielleicht doch lieber dramatischer gestalten sollte. Vielleicht konnte sie jemand überfallen? Oder ein überraschender Herzinfarkt beendete ihr Leben auf der Straße? Jemand könnte das Geld finden. Aber was würde der Finder mit so viel Geld anstellen? Ich entschied mich wieder um. Die Frau sollte das Geld für was Gutes einsetzen. Ja! Ein gutes Ende war wichtig. Ich sah auf die Uhr.

Mittlerweile war wieder eine halbe Stunde vergangen. Es waren nur noch der nette, auskunftsfreudige Herr und ein jüngerer Geschäftsmann vor mir an der Reihe. In der Schlange nebenan wurde es plötzlich laut.

Mein Funktionsjackenträger stand vor dem Kassierer.

„Das gibt’s doch gar nicht“, hörte ich eine aufgebrachte Stimme durch die Halle der Bank schallen.

Ich hatte also recht gehabt. Punkt für mich. Er war Deutscher. Der Kassierer hinter der Glasscheibe wies auf das Ende meiner Schlange und sagte etwas, das ich aus der Entfernung nicht verstehen konnte. Die Reaktion des Funktionsjackenträgers verriet jedoch alles. Eine gekonnte Pirouette, ein genervter Blick, eine zerknüllte Pesetennote und viele deutsche Worte, die den Raum durchquerten, um an mein Ohr zu gelangen, aber hier aus Gründen des Jugendschutzes nicht wiedergegeben werden sollten.

Zähneknirschend stapfte er durch den Saal. Er tat mir fast schon ein wenig leid. Er griff zum Handy und wollte wohl gerade seinen Frust abladen, da hob sich mein Arm.

„Hier rüber!“, hörte ich eine durchdringende Stimme, die dem monotonen Warten aller Anwesenden eine Ende setzte. Achtzig Augenpaare ruhten auf mir. Hatte ich gerufen? Ich sah meinen Arm durch die Luft schwingen und den Mann heranwinken. Der Deutsche sah sich um. Natürlich war er gemeint, auch wenn ich immer noch nicht so genau wusste, was ich da tat. Der Mann kam zu mir rüber.

„Geben Sie mir Ihr Geld“, sagte ich, ohne darüber nachzudenken, ob er meine Hilfe überhaupt wollte. Er sah auf die Schlange hinter mir, dann auf sein Handy und dann wieder mich an. Ein Geschäftsmann hatte gerade seine Angelegenheiten erledigt und ging bereits an mir vorbei, als der letzte Herr vor mir in der Reihe sich auf den Weg zur Kasse machte.

Während der gestresste Urlauber seine Optionen abwägte, klopfte ich mir innerlich auf die Schulter. In Hamburg wäre ich niemals auf die Idee für eine spontane ‚Rettungsaktion‘ eines doch eher unsympathischen Typs gekommen. Das Ausland schweißt Landsleute jedoch zusammen. Auch wenn es nur die Sprache war, die uns verband. Vielleicht war es aber auch das vergangene Jahr, das mich in dieser Hinsicht verändert hatte. Ich war aufmerksamer als früher. Aufmerksamer für meine Mitmenschen und ihrer Sorgen.

Ich spürte, wie sein Blick mich taxierte. Konnte er mir trauen? Dann sah er die Halle hinunter, bis zum hintersten Ende der Schlange.

„Meine Familie wartet im Hotel. Wir wollten heute eigentlich in die Alhambra.“

Ich nickte und nahm ihm den Schein ab.

„Wird schon“, sagte ich und klopfte ihm dabei wie selbstverständlich auf die Schulter. „Ist halt alles nicht so einfach, wenn man die Sprache nicht versteht.“ Ich wusste genau, wovon ich sprach.

Endlich war ich an der Reihe. Obwohl der fremde Mann sich sicher wunderte, wo ich das viele Kleingeld herhatte, fragte er nicht. Er nahm die 30 Euro, die ich ihm nach dem Tausch an der Kasse übergab.

„Das müsste stimmen“, sagte ich. „Zählen Sie nach!“

Die roten Punkte waren aus seinem Gesicht verschwunden. Der Anflug eines Lächelns zeichnete sich ab. Monti konnte das mit dem Lächeln allerdings überzeugender.

Ungezählt steckte er das Geld in seine Hosentasche. Der Mann bedankte sich mit einem beherzten Handschlag und verschwand. Ich sah ihm noch einen Augenblick hinterher.

Er hatte seinen halben Vormittag damit verbracht, 30 Euro zu tauschen, statt mit seiner Familie durch die Straßen zu schlendern, vielleicht ein Eis zu essen und die Sehenswürdigkeiten der Stadt aufzusuchen. Für mich waren 30 Euro viel Geld. Für ihn wahrscheinlich nicht. Zumindest vermutete ich das, nachdem ich die Designeruhr an seinem Handgelenk gesehen hatte. Ich an seiner Stelle hätte die Zeit lieber mit meiner Familie verbracht und den Schein für weitere Jahre in den Eichenschreibtisch zurückgelegt. Menschen benahmen sich jedoch komisch, wenn es um Geld ging. Ein Teil von mir verstand das natürlich. Geld war wichtig. Man brauchte es, um zu leben. Aber viele Leute jagten dem Geld schon lange nicht mehr alleine deshalb nach, um ein sorgenfreies Leben führen zu können. Diesen Menschen ging es um das Besitzen, um das Repräsentieren, um das Bild, das die anderen von ihnen haben.

Mein Leben sah anders aus. Ich fragte mich, wer von uns am Ende glücklicher war. Er, mit seiner finanziellen Sicherheit, aber selbst im Urlaub noch im Stress, oder ich, die sich gegen materiellen Reichtum entschieden hatte, dafür aber auch keinen Cent für eventuelle Notfälle gespart hatte.

Ich schob meine Überlegungen zur Seite. Das Alles war im Moment nicht wichtig. Mona wartete auf mich.


Als ich in der Bar ankam, saß meine Freundin bereits am Tresen. Vor ihr stand ein leerer Teller. Ein paar Krümel darauf waren die letzten Spuren, die von den Schinkenkroketten übrig geblieben waren.

„Konntest du nicht warten?“

„Ich hatte so einen Hunger“, antwortete meine Freundin und sah mich dabei mit großen Kulleraugen an. „Wir bestellen gleich noch ein Portion. Nur für dich!“

Sie hob ihre Hand, um den Kellner heranzuwinken, doch ich drückte ihren Arm wieder nach unten.“

„Lieber nicht!“, sagte ich.

Das laute Knurren meines Magens schien Widerspruch einzulegen. Doch als Schatzmeisterin unseres Unternehmens musste ich auf unsere finanzielle Situation Rücksicht nehmen, die seit dem Kauf unseres Haustiers einen weiteren Tiefpunkt erreicht hatte.

„Ich esse zu Hause. Das ist billiger. Wir gehen doch gleich einkaufen.“

Mona sah mich verständnislos an.

„Wir können uns keine großen Sprünge mehr erlauben. Wir brauchen eine Reserve!“, erklärte ich ihr meinen Verzicht auf die leckersten Kroketten, die Granada zu bieten hatte.

„Aber eine Portion?“, wollte Mona einwenden.

„Es ist doch nicht nur eine Portion! Dann kommt noch eine zweite dazu, ein Glas Wein und ein Kaffee, und schwups sind wir wieder 10 Euro los.“

Schweigend sahen wir auf den Tresen.

Der Kellner kam. Ich verlangte die Rechnung.

„Es wird wieder besser“, hörte ich meine Freundin sagen.

Natürlich, dachte ich mir. Aber bis dahin durfte nichts Unvorhergesehenes passieren.


Im Supermarkt legte Mona als Erstes drei Möhren in den Einkaufswagen. Das waren also die Einkäufe, die für Monti vorgesehen waren. Ich kümmerte mich um Brot, Aufschnitt, Reis, Gemüse und Obst. Mona packte zu den Möhren noch zwei Äpfel, eine Packung frische Erdnüsse und eine Tüte Katzenstreu.

„Katzenstreu?“

„Sand wäre auch okay. Aber Vogelsand ist im Verhältnis dazu viel teurer. Im Forum habe ich gelesen, dass Katzenstreu auch geht.“

Der Stein war im Rollen. Ich konnte die Lawine nicht mehr aufhalten. In der Weinecke kauften wir noch einen günstigen Tempranillo aus der Gegend von Aragon, an der Käsetheke bestellte ich ein halbes Pfund Gran Capitán und Mona ließ auf dem Weg zur Kasse noch eine scharfe Chorizo in den Einkaufs­wagen fallen. Wir waren fast süchtig nach dieser Paprikawurst.

Als wir zurück zum Bus gingen, musste ich schmunzeln. Es war ein schönes Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn dort jemand wartete. Monti konnte zwar nicht aufräumen oder das Essen vorbereiten, was er allerdings konnte, und das hatte er bereits zweimal unter Beweis gestellt, war, zu lächeln. Und das konnte er besser als manch verschrobener Funktionsjackenträger.

„Ob er sich auf uns freut?“, fragte Mona, als ich die Seitentür aufschloss.

„Wahrscheinlich“, antwortete ich.

Aber eigentlich war das auch egal. Wir waren es, Mona natürlich voran, die es nicht abwarten konnten, den Nachmittag mit unserem neuen Freund zu verbringen.

„Wann willst du das mit der Leine ausprobieren?“, fragte ich.

„Ich weiß nicht. Er soll sich erst einmal an uns gewöhnen. Vielleicht sollten wir ihn heute nur ein wenig den Bus erkunden lassen.“

„Aber nicht, bevor wir auch wirklich alle Löcher zugestopft haben. Sonst entwischt er uns durch irgendeine Ritze.“

Mona nickte. Unter lautem Knarren schob ich die Tür zur Seite. Monti saß auf seinem Lieblingsplatz, Pfötchen wie immer ans Gitter gelegt. Aufgeregt scharrte er mit seinen Hinterläufen.

„Siehst du, er freut sich“, sagte Mona strahlend.

Von da an hatte mich Monti endgültig um den Finger gewickelt. Ich überlegte kurz, ob ich es nicht doch noch einmal als Vegetarierin versuchen sollte, wenn schon ein so kleines Geschöpf wie Monti so viel Persönlichkeit besaß. Aber dieser Gedanke verpuffte sofort wieder, als ich die Einkäufe für das Mittagsessen auf den Tisch legte. In der Mitte thronte die Chorizo.

„Lass uns erst einmal essen. Wenn wir fertig sind und alles weggeräumt haben, dann holen wir Monti raus.“

Mona machte den Käfig wieder zu. Sanft streichelte sie unseren Freund durch die Gitterstäbe hindurch unterm Köpfchen. Dann deckte sie den Tisch.


Der erste Testlauf mit Monti im Bus verlief gut. Wir hatten sorgfältig alle Löcher zugestopft, alles Annagbare aus dem Weg geräumt und ihn unter strenger Beobachtung eine Stunde durch den Bus krabbeln lassen. Während der kleine Nager den Duft der Freiheit schnupperte, verteilte Mona eine Schicht Katzenstreu in der hinteren linken Ecke des Käfigs.

„Und woher weiß Monti, dass er in diese Ecken pischern soll?“, fragte ich.

„Pischern? Nee, das Streu ist nicht zum Pipi machen da. Chinchillas brauchen das zum Baden. Da schubbern die sich drin, damit das Fell schön weich bleibt.“

„Ehrlich? Ein Bad ohne Wasser?“

„Es geht nicht darum, den Dreck abzuwaschen. Unsere fettigen Finger machen sein Fell stumpf. Jedes Mal, wenn wir ihn anfassen, überträgt sich das Fett.“

Ich sah prüfend auf meine Hände.

„Es ist nur ein ganz dünner Film“, beruhigte mich Mona. „Aber das reicht, um Montis Fell stumpf wirken zu lassen.“

„Und mit einem Sandbad soll sein Fell wieder glänzen?“

„Genau. Und es wird wieder weich. So stand das zumindest in dem Forum“, erklärte Mona.

Ich war gespannt, ob unser Nager wusste, was in diesem Internetportal über ihn und seine Artgenossen geschrieben wurde.

Als Monti nach seiner ersten Stunde in ‚freier Wildbahn‘ zurück in seinen Käfig musste, war er zunächst einmal missgestimmt. Natürlich drückte er dies nicht mit Worten aus. Stattdessen verzog er sich in die hintere Ecke mit dem Katzenstreu und wandte uns seinen Rücken zu.

„Wir können dich doch nicht den ganzen Tag durch die Gegend laufen lassen, mein Kleiner“, versuchte Mona, Monti zu trösten.

„Das ist die Trotzphase“, sagte ich zum Spaß. Aber Monas Gesichtsausdruck sah nicht danach aus, als wäre ihr nach Scherzen zumute.

Als stumme Zeugen seines Auslaufs hatte Monti kleine Köttel­chen auf dem Boden hinterlassen. Es waren winzige schwarze Würstchen, staubtrocken und kaum größer als Reiskörner. Es war also nicht weiter dramatisch, wenn man nach seinem Gassigang einmal kurz durch den Bus fegte. Was mir jedoch Sorgen berei­tete, war das kleine Geschäft. Es war bis jetzt nicht zu erkennen, ob sich Monti auch dahingehend in unserem Bus erleichtert hatte, aber ich vermutete, dass der kleine Nager keine Rücksicht darauf nehmen würde, wenn die Natur ihr Recht einforderte.

„Guck mal, Karen“, sagte Mona in meine Überlegungen hinein und zeigte dabei aufgeregt in den Käfig. „Er hat gar nicht geschmollt.“

Monti saß wieder auf seinem Überwachungsplatz und hinter ihm, im Katzenstreu, in der Ecke, in der er uns kurz zuvor noch den Rücken zugewand hatte, war ein kleiner dunkler Punkt im hellen Granulat zu erkennen. Eindeutig Chinchilla-Pipi.

„Zufall“, murmelte ich. „Reiner Zufall. Nie und nimmer hat er seine Blase dermaßen unter Kontrolle.“

„Wahrscheinlich“, musste auch Mona eingestehen.

„Und badet er jetzt auch in dieser Ecke? Ich meine, da hinten, beim Pipi. Dann fasse ich ihn aber nicht mehr an.“

Mona tauschte das durchnässte Katzenstreu sicherheitshalber gegen frisches aus.

„Für den Fall, dass er doch noch baden will“, erklärte sie.

Monti machte allerdings keine Anstalten, sein Bad zu nutzen.


Am selben Abend waren wir mit María und Pedro, zwei Straßenkünstlern, die wir im vergangenen Jahr kennengelernt hatten und die jetzt mit uns den Winter in Granada verbrachten, in unserer bevorzugten Tapasbar verabredet. Nach einer herzlichen Begrüßung berichtete Mona gleich von unserem Teamzuwachs. Sie hatte etwas von einer Mutter, die von ihrem süßen, aufgeweckten Neugeborenen berichtete. Unsere Freunde hörten aufmerksam, aber mit unübersehbaren Falten auf der Stirn zu, die auch ich in Anbetracht dieser Geschichte gehabt hätte, würde Monti nicht in unserem, sondern in ihrem Bus wohnen.

„Un ratón?“, fragte María.

„Nein“, widersprach Mona. „Keine Maus. Er sieht nur so aus wie eine große Maus. Er ist ein Chinchilla!“

Die Spanier tauschten Blicke aus, die man auch gut ohne Psychologiestudium verstehen konnte: ‚Die spinnen, die Chicas!‘

„Wenn wir zurück nach Deutschland fahren, bekommt Monas Nichte den Chinchilla. Wir wollten ihn doch nur retten“, versuchte ich, unsere Tat zu rechtfertigen. Aber eigentlich war es auch egal. Monti gehörte jetzt zu uns und damit basta.

„Kommende Woche fahren wir ein paar Freunde besuchen. Die haben eine Finca in der Nähe von Cáceres“, sagte Pedro in die aufkommende Stille hinein und lenkte damit auf ein anderes Thema, worüber ich nicht undankbar war. „Ein wenig entspannen, zusammen grillen, Dinge für die nächste Saison vorbereiten. Das Übliche eben.“

Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was ‚das Übliche eben’ in so einem Fall war. Ich hatte keine Finca. Streng genommen hatte ich noch nicht einmal mehr eine Wohnung. Die war seit letztem Jahr an einen Geschäftsmann untervermietet, dem es sehr entgegenkam, dass ich ihn ein weiteres Jahr in meinen vier Wänden wohnen ließ.

„Wann sehen wir euch wieder?“, fragte Mona.

„April. Mai. Vielleicht kommen wir nach Sevilla. Aber das wissen wir noch nicht.“

Schweigend sah ich auf das Weinglas vor mir. Zwei Monate ohne Freunde in einer fremden Stadt waren eine lange Zeit. Allerdings hatten auch wir uns noch einiges bis zum Beginn der Saison vorgenommen.

„Spätestens im Mai sehen wir uns ja wieder. Und dann wird das ein toller Sommer“, versprach Pedro, der sein Rotweinglas darauf erhob.

„Auf die Fiestas!“

„Auf eine ertragreiche Saison!“, ergänzte María.

„Auf das Leben!“, sagte Mona.

Das zarte Klirren aneinanderschlagender Gläser verscheuchte die trübe Stimmung, die unser Treffen kurzzeitig überschattete. Ausgelassen verbrachten wir den Rest des Abends, erzählten uns Geschichten aus unseren Leben und verspeisten dabei köstliche Tapas.


Am nächsten Morgen dröhnte mein Schädel. Meine Augen weigerten sich, das Tageslicht hereinzulassen. Am liebsten hätte ich noch eine Stunde im Bett verbracht, aber das ging nicht. Von unten stieg das Geräusch unruhigen Trippelns an mein Ohr, welches kurz darauf in ein angsteinflößendes Nagen an metallenen Gitterstäben überging. Da fühlte sich wohl jemand vernachlässigt.

Ich seufzte. Das war einer der Gründe, weshalb ein Wohnmobil zu klein für das Reisen mit einem Chinchilla war. Die Geräusche, die so ein kleines Geschöpf fabrizieren konnte, erinnerten eher an eine ausgewachsene Seekuh als an eine Handvoll Fell.

Du machst das!“, sagte ich zu meiner Freundin, die ebenfalls noch mit den Nachwirkungen des gestrigen Abends kämpfte. „Du wolltest ihn retten, also kümmer dich um ihn!“

Grummelnd stieg Mona aus dem Bett. Monti war sofort still.

„Mist“, hallte es plötzlich durch den Bus. Aber ich ignorierte das. Was konnte Monti schon angestellt haben? Schließlich saß er hinter Gittern.

„Das darf doch nicht wahr sein!“

Monas Stimme wurde lauter. Ich war zwischen Müdigkeit und Neugierde hin- und hergerissen. Letztendlich siegte die Neugierde. Mit halb geöffneten Augen versuchte ich zu erkennen, was Mona da unten so aufregte.

Im ganzen Bus verteilt lag das Katzenstreu, das Mona gestern in Montis Käfig gestreut hatte.

„Na denn. Guten Morgen, Monti“, begrüßte ich unseren Mitbewohner.

„Selbst schuld“, sagte Mona angesäuert, während sie mir den Unhold in die Hand drückte. „Dann eben kein Katzenstreu!“

„Aber du hast doch gesagt, dass er das für sein Fell braucht?“

„Ja, braucht er auch. Aber er kriegt es jetzt nur noch unter Aufsicht!“

Daraufhin entfernte Mona das Katzenstreu aus Montis Käfig. Bis zum allerletzten Krümel schüttete sie das Granulat in eine Tüte, ehe sie sich der Reinigung des Busses widmete.

Noch am selben Tag kauften wir eine Box. Sie war grün, rechteckig und aus Plastik. Wir füllten die Kiste mit Katzenstreu und stellten sie auf den Boden, bevor wir Monti abends durch den Bus laufen ließen. Schnell erkannte unser Superhirn, dass die Kiste für ihn war. Er sprang hinein und drehte sich wie ein Irrer im weißen Streu. Eine Staubwolke stieg über ihm auf. Aber das kümmerte ihn nicht. Es schien im Chinchillahimmel zu schweben, so ausgelassen tobte er durch das Katzenstreu. Aber nach ein paar Minuten war das Glücksgefühl wieder verflogen. Er setzte sich an den Rand der Kiste, legte seine Pfötchen darauf ab und machte ein ernstes Gesicht.

„Klappt doch super! Und das Streu ist sogar größtenteils drinnen geblieben“, sagte ich zu Mona, die auf die Idee mit der Box gekommen war.

„Ja“, befand auch meine Freundin.

Beide sahen wir auf Monti hinab, der sich seit gut einer Minute nicht mehr bewegt hatte. Kurz darauf sprang er aus der Kiste. Hinter ihm blieb ein dunkler Fleck im sonst schneeweißen Katzenstreu zurück.

„Da, guck mal! Chinchilla-Pipi!”, sagte ich aufgeregt und zeigte dabei auf die Box.

„Ja, und?“

Mona war die Verwirrung anzusehen.

„Schnell. Eine Nuss!“, sagte ich, statt ihre Frage zu beantworten, und griff über den Tisch in die Schale voller Erdnüsse.

Mit der Nuss am ausgestreckten Arm näherte ich mich Monti, der vorsichtig an seinem Geschenk schnupperte. Er kannte wohl noch keine Erdnüsse. Dennoch nahm er mir das unbekannte Etwas aus der Hand. Mit beiden Pfötchen hielt er die Nuss fest und begann dann, mit seinen kleinen Zähnchen die Schale zu öffnen. Geschickt und schnell hatte er schon bald die Belohnung für seine Mühen in den Pfötchen. Auch die zweite Nuss in der Schale fand er ohne unsere Hilfe innerhalb kürzester Zeit.

„Wenn er jedes Mal, quasi als Belohnung, eine Nuss bekommt, sobald er in das Katzenstreu Pipi macht, dann haben wir vielleicht Glück und er lernt, dass dies seine Toilette ist.“

Skeptisch sah mich Mona an.

„Verlangst du da nicht ein bisschen viel von ihm?“

„Er ist ein cleveres Kerlchen. Wir müssen nur aufpassen, dass wir es nicht verpassen, wenn er auf sein Töpfchen geht.“

Wir hielten uns an diesen Plan. Sobald Monti aus seinem Käfig gelassen wurde, hielt eine von uns Wache, um den magischen Moment des Pipimachens abzupassen. Jedes Mal, wenn er den Toilettengang erfolgreich abgeschlossen hatte, gab es als Belohnung eine leckere Erdnuss. Natürlich reinigten wir das Katzenstreu von den dreieinhalb Tröpfchen Chinchilla-Pipi, bevor Monti diese Box auch für seine Haarpflege nutzte.

Am vierten Tag war es dann soweit: Monti wurde von Mona aus dem Käfig gelassen und steuerte direkt auf seine Toiletten-Badewannen-Kombibox zu.

„Siehst du? Siehst du!“, flüsterte ich und zog dabei an Monas Arm. „Er hat es verstanden!“ Gebannt sahen wir nach unten.

Unser Chinchilla machte es sich an dem Kistenrand bequem und setzte seine ernste Miene auf. Nach etwa einer Minute sprang er wieder aus der Box und sah dann mit einem erwartungsvollen Blick nach oben. Erst zu Mona, dann zu mir.

„Da, da“, sagte ich und zeigte dabei auf den dunklen Fleck im Katzenstreu. „Chinchilla-Pipi!“

Eltern, die ihr Kind das erste Mal erfolgreich aufs Töpfchen setzten, konnten nicht stolzer auf ihren Nachwuchs sein. Natürlich bekam Monti seine Erdnuss. Zur Feier des Tages gab es sogar zwei. Ich weiß nicht, ob die Erdnussmethode auch für menschlichen Nachwuchs empfehlenswert ist. Bei uns hat sie jedenfalls funktioniert!

Wenn Sie mir die Toilettengeschichte nicht glauben, dann warten sie noch ein wenig ab. Unser kleiner Chinchilla war nämlich noch viel cleverer.

Nach einer Woche war unser anfänglicher Enthusiasmus über Montis Reinlichkeit ein wenig verblasst. Sein abendlicher Auslauf wurde zur Routine. Unser Chinchilla kam aus dem Käfig, machte sein Geschäft, bekam eine Nuss und Mona reinigte die Box. Schließlich nahm Monti abends gerne auch noch sein kleines Sandbad.

Auch an diesem Abend ging er wieder in die Box zurück, aber anstatt sich darin zu drehen und das Katzenstreu queer durch den Bus zu schleudern, setzte er sich wieder an den Rand. Eine Minute verging und er sprang raus.

„Noch mal?“, fragte Mona ungläubig.

Ich ging zur Box und sah hinein. Monti saß davor und schaute zu mir auf.

„Da ist nix. Kein Punkt. Da ist gar nichts!“

Ich sah Monti an. Monti sah zurück.

„Hast du da jetzt reingepischt, oder nicht?“

Monti antwortete nicht. Natürlich nicht. Er wartete auf seine zweite Erdnuss. Um ihn nicht unrecht zu tun, nahm ich ein Taschentuch und überprüfte das Streu.

„Da ist wirklich nichts“, sagte ich nun etwas lauter und wusste dabei nicht, ob ich von Montis Hinterlist enttäuscht oder auf seine Genialität stolz sein sollte.

Monti merkte wohl, dass sein Plan aufgeflogen war. Er hoppelte unter den Tisch.

Natürlich gab es für diesen Betrugsversuch keine Nuss. So ein Verhalten sollte man auf gar keinen Fall unterstützen. Dennoch bekam Monti eine indirekte und meiner Meinung nach viel größere Belohnung. Unser kleiner Südamerikaner war der Grund dafür, dass wir danach Vegetarierinnen wurden. Damit hat Montis Verhalten anderen Tieren das Leben gerettet. Eine Kette von Lebensrettungen sozusagen, wobei ich nur raten kann, was das gerettete Schwein oder die überlebenden Hühner mit ihrer zweiten Chance angefangen haben.


Montis abendliche Ausflüge in unserem Bus fanden immer in einer Art Flutlichtatmosphäre statt. Wir machten alle Lampen an, um unseren kleinen Racker auch noch in der hintersten Ecke beobachten zu können. Schließlich gab es immer noch die Möglichkeit, dass er sich einen Fluchttunnel buddelte oder ein noch so kleines Loch für einen Spaziergang im freien nutzen würde.

Allerdings gab es da ein kleines technisches Problem, an das wir nicht gedacht hatten, als wir Woody vor über einem Jahr gekauft hatten. Dieser Bus hatte keine Solaranlage! Montis abendliche Spaziergänge saugten regelmäßig unsere Hausbatterie leer, sodass wir sie zweimal die Woche mit laufendem Motor wieder aufladen mussten. Das war zwar nicht besonders umweltfreundlich (und wenn ich an Woodys schwarzen Qualm denke, schäme ich mich wirklich dafür), aber es war eben notwendig.

„Die Ladeanzeige ist wieder unter 11 Volt“, sagte Mona, die im Licht einer Taschenlampe auf die Anzeige starrte.

„Aber hatten wir den Motor nicht erst vor zwei Tagen an?“

Es nervte mich, wenn unsere freien Tage durch Woodys Motorengeräusche so unsanft gestört wurden. Als Schriftstellerin brauchte ich Ruhe. Ich musste mich auf meine Texte konzentrieren!

„Ja, aber nur eine halbe Stunde“, antwortete Mona. „Danach waren wir doch mit María und Pedro unterwegs.“

„Na dann.“

Mona setzte sich wie gewohnt hinter das Steuer. Ich nahm Monti auf den Arm und hielt ihm die Ohren zu. Das Heulen des Motors kurz vor dem Anspringen dauerte mittlerweile über eine Minute.

„Die Batterie kann doch nicht leer sein?“, brüllte Mona über den Lärm hinweg.

Ich kniff die Augen zusammen, wie ich es auch immer im Kino machte, wenn der Typ mit dem Messer in Großaufnahme zu sehen war. Aber unser Problem löste sich damit natürlich nicht. Meine Freundin unterbrach den Startversuch.

„Wie viel Geld haben wir eigentlich noch?“, fragte Mona in die trügerische Stille hinein.

„Zwischen 200 und 300 Euro“, schätzte ich.

Mona versuchte noch einmal, Woody zu starten. Der Motor jaulte wie ein angeschossener Iltis, aber das beruhigende Tackern des Motors nach dem Starten wollte sich nicht einstellen.

„Wir müssen eine Werkstatt suchen!“

Diese Worte wollte ich heute nicht hören. Eigentlich wollte ich das Wort ‚Werkstatt‘ im Zusammenhang mit Woody nie hören. Diese Worte hatten immer ein teures Nachspiel. Bei so einem alten Wagen war es jedes Mal ein Höllenritt zwischen der Abgabe des Fahrzeugs und der Bekanntgabe der Diagnose, die den Kostenvoranschlag beinhaltete. Ich malte mir alle Horror­szenarien aus, was an unserem Bus kaputtgehen und die Rechnung in meiner Fantasie ins Unermessliche hochtreiben konnte.

Mona trat wieder auf‘s Gas. Wieder wehrte sich die Maschine gegen ihr Schicksal, aber dieses Mal gab meine Freundin nicht nach. Sie trat in regelmäßigen Abständen pumpend auf das Gaspedal, sodass sich das Geheul des Motors zu einem winselnden Weinen verzerrte. Sekunden wurden zu Minuten. Ich drückte die Daumen, ein dummer Aberglaube, der aber genauso wenig Schaden anrichten konnte wie Monas positives Denken. Vielleicht wurden in diesem Moment auch ein paar Worte gen Himmel gesprochen. Wie dem auch sei. Kurz darauf veränderte sich das Geräusch. Das Jaulen wurde von zarten, aber unüberhörbaren Startversuchen des Motors unterbrochen.

„Los, du schaffst es“, versuchte ich, Mona zu motivieren.

Doch Mona gab auf.

„Verdammt, du hattest es doch fast!“, fauchte ich sie an.

„Die Batterie ist so gut wie leer. Ich meine jetzt die vom Motor und nicht die von hinten für die anderen Sachen. Ich habe vielleicht noch einen, höchstens zwei Versuche, den Motor zu starten.“

Behutsam strich Mona über das Lenkrad. Danach atmete sie tief ein und flüsterte kaum hörbar: „Woody, wir schaffen das.“

Dann erfüllte wieder das Motorgejaule den Raum. Mona pumpte auf dem Pedal, erst langsam, dann immer schneller werdend. Bald stand sie im Sitz, mit ihrem Fuß auf dem Gas. Woody arbeitete mit, was ich an den Versuchen hörte, in denen der Motor immer wieder zu tackern begann.

Ich dachte schon, Mona würde aufgeben. Aber Woodys Motortackern wurde länger. Es hörte auf. Dann noch ein wenig länger. Es hörte wieder auf, um kurz darauf erneut einzusetzen. Und dann blieb es. Woodys Motor lief. Kein Heulen mehr, nur noch das ohrenbetäubende Hämmern der Zylinder.

„Er ist an, er ist an!“, brüllte Mona über den Lärm der Maschine hinweg. Ich konnte es auch kaum fassen. Nach den Minuten des Hoffens und Bangens kam mir das sonst eher nervige Motorgeräusch wie ein Geschenk des Himmels vor. Ich wollte Mona schon um den Hals fallen, aber sie blockte ab: „Bis wir Woody nicht in einer Werkstatt haben, wird nicht gefeiert.“

So ernst hatte ich meine Freundin lange nicht mehr erlebt.

Wir ließen den Motor laufen, während wir alle Sachen verstauten, die im Bus herumfliegen konnten. Montis Käfig stellten wir unter den Tisch. Er selbst bekam einen Ehrenplatz auf meinem Schoß, da wir nicht wussten, wie er reagieren würde, wenn sich sein neues Heim in Bewegung setzte. Im Gegensatz zu uns war Monti allerdings fast schon tiefenentspannt, als Woody sich behäbig vom Parkplatz auf die Straße schob. Anstatt sich in meiner Armbeuge zu verstecken, sah der Nager interessiert aus dem Fenster.

Man kann nicht behaupten, dass es wenige Werkstätten in Spanien gibt. Aber viele von ihnen sind nicht dafür ausgestattet, einen drei Meter hohen Bus in ihrer Halle unterzubringen. Es dauerte ungefähr anderthalb Stunden und vier Versuche, für die wir kreuz und quer durch die Stadt geschickt wurden, ehe wir endlich Glück hatten.

Fast am Stadtrand gelegen, gleich neben einem großen Einkaufscenter, fanden wir eine Werkstatt, deren Halle nicht nur hoch genug war, sondern die auch eine entsprechende Hebebühne für unser ‚kleines Baby‘ hatte.

Natürlich war an diesem Tag kein Termin mehr frei. Dies sagte uns zumindest ein Mechaniker, der mir ein wenig zu abschätzig auf unseren ergrauten Woody sah. Für einen Termin sollten wir zum Werkstattmeister gehen, der am Ende der Halle sein Büro hinter einer Glastür hatte.

Wir waren verzweifelt. Schließlich wussten wir nicht, ob wir unseren Bus jemals wieder ohne die Hilfe eines Fachmanns anlassen konnten.

Deshalb ließen wir Woody mit laufendem Motor in der Halle stehen. Gemeinsam gingen wir in das Büro des Chefs.

„Hola“, versuchte ich, nicht allzu verzweifelt das Gespräch zu beginnen.

„Buenos días“, sagte der Mann. „Wie kann ich euch helfen?“

Mit Händen und Füßen versuchten wir, dem Werkstattleiter unser Problem zu erklären. Mein Spanisch funktionierte sonst deutlich besser. Aber die Anspannung und viele fehlende Vokabeln machten mich doch sehr unsicher. Geduldig und aufmerksam hörte der Mann zu. Als Mona zu guter Letzt meinte, dass wir gerne heute noch einen Termin hätten, da wir nicht wussten, ob wir mit unserem Bus jemals wieder die Werkstatt erreichen würden, kratzte er sich am Hinterkopf.

„Heute?“

Er blätterte im Terminkalender, grummelte leise etwas und stand dann auf.

„Kommt mit.“

Wir folgten ihm in die Halle.

„Francesco“, rief er und ein älterer Mechaniker kam hinter einem Lieferwagen hervor.

Die Männer unterhielten sich, es wurde auf unseren Wagen gedeutet und von ‚arranca mala‘ gesprochen. Auf Deutsch bedeutete das, dass Woody schlecht ansprang, aber das wussten wir ja schon. Mehr verstand ich nicht. Mona zuckte auch nur mit den Schultern. Danach sprach der Leiter der Werkstatt wieder zu uns.

„Francesco wird sich euren Bus mal ansehen. In etwa zwei Stunden wissen wir mehr.“

Wir ließen Woody bei Francesco und machten uns auf den Weg in eine nahegelegene Bar. Wie ich schon befürchtete, begann nun meine Fantasie verrücktzuspielen. Zwei Stunden, 120 Minuten oder eine gefühlte Ewigkeit, wenn man eine Paranoikerin war.


„Das ist das Ende“, seufzte ich, noch ehe ich in der Bar am Tisch Platz genommen hatte.

„Blödsinn“, erwiderte Mona. „Wie viel Geld ist denn noch in unserem Portemonnaie?“

Ich holte den kleinen Beutel mit unseren Ersparnisse hervor. Gemeinsam zählten wir die Scheine und Münzen. Wir kamen auf das niederschmetternde Ergebnis von 234 Euro.

„Das ist wirklich nicht viel“, stellte Mona nüchtern fest.

„Damit kommen wir nie aus!“, sagte ich mit einer Spur Hysterie in der Stimme.

„Warte doch erst einmal ab“, versuchte Mona mich zu beruhigen. Aber das half nichts. In meinem Kopf rasselte es. Kaputte Bremsscheiben, ein neuer Motor, Stoßdämpfer erneuern und vielleicht dabei auch noch ein Lichtmaschinencheck. Nie und nimmer reichten dafür unsere mickrigen 234 Euro aus.

Ich rechnete.

„Wie lange haben wir Monti schon?“, fragte ich.

„Was hat denn das damit zu tun?“

„Zwei Wochen Rückgabefrist! Gilt das nicht auch für Chinchillas?“

Empört sah mich Mona an.

„Monti ist kein Chinchilla. Er ist Monti! Er ist unser Monti! Da wird nichts zurückgegeben. Da rufe ich eher bei meinem Bruder an und leih‘ mir das Geld.“

Das wollte was heißen. Denn Mona hätte sich eher den rechten Arm abgehackt, als irgendjemanden in ihrer Familie um Hilfe zu bitten. Der kleine Südamerikaner hatte es tatsächlich geschafft. Ich konnte mir auch nicht mehr vorstellen, unsere Abende ohne ihn zu verbringen. Monti wegzugeben, gehörte tatsächlich zu den blödsinnigeren Ideen, die ich in letzter Zeit gehabt hatte. Gerade jetzt, da wir ihn so weit hatten, dass er auf die Toilette ging. Vielleicht würden wir ihm ja noch das Kaffeekochen oder Zeitungholen beibringen. In diesem kleinen Tier schlummerten ungeahnte Talente.

Aber Schluss mit Nagern. Unser Problem war jetzt nicht mehr zu verdrängen, da wir in weniger als zwei Stunden eine Rechnung vorgesetzt bekommen würden, die wir vielleicht gar nicht bezahlen konnten.

Unser Kaffee kam. Wieder 1,60 Euro zum Fenster rausgeworfen.

„Trink langsam“, ermahnte ich Mona. „Einen zweiten Kaffee gibt es nicht. Damit müssen wir anderthalb Stunden totschlagen.“

Mona widersprach nicht, sondern nippte nur vorsichtig am heißen Getränk.

„Woody schafft das. Er macht sich garantiert billig.“

Monas Optimismus nervte in diesen Minuten der Panik.

„Woody vielleicht. Aber die Werkstatt?“

Zylinderkopfdichtungen, Getriebe und Kupplung, Achsaufhängungen, Anlasser, Verteiler und der Motor selbst. Alles Teile, die in einem Bus kaputtgehen konnten. Mein Kopf dröhnte. Es war gerade mal eine halbe Stunde vergangen. Zähe neunzig Minuten lagen noch vor uns.


Exakt zwei Stunden später standen wir wieder in der Halle der Werkstatt. Francesco hatte den Wagen immer noch auf der Hebebühne stehen, war aber nun wieder mit dem anderen Lieferwagen beschäftigt. Der Werkstattleiter stand mit dem dritten Mechaniker über den Motor eines neuen Audis gebeugt. Geduldig stellten wir uns neben ihn und warteten.

Kurze Zeit später drehte sich der Chef zu uns. Er winkte Francesco heran, der gemeinsam mit uns bei Woody eintraf und zu erklären begann. Er sprach schnell und ‚hochandalusisch‘, was das Verstehen für mich nicht einfacher machte. Glücklicherweise dolmetschte der Werkstattleiter für uns, da wir wohl nicht die Ersten waren, die mit Francescos Aussprache Probleme hatten.

„Der Wagen ist halt alt. Hier unten seht ihr das am besten. Die Dichtung hier. Sie ist porös.“

Er zeigte auf einen schwarzen Gummiring hinter der Radaufhängung. Auch für einen Laien war zu erkennen, dass diese Dichtung ihren Namen schon lange nicht mehr verdiente.

„So sehen alle Dichtungen bei eurem Wagen aus. Auch die im Motor.“

Er gab Francesco das Zeichen, die Hebebühne abzusenken.

„Müssen wir alle Dichtungen austauschen lassen?“, fragte Mona.

Ein gezwungenes Lächeln mit einer hochgezogenen Augenbraue begleitete die Antwort des Werkstattleiters: „Das ist euer kleinstes Problem. Aber hier“, er nahm eine Zündkerze in die Hand und reichte sie uns.

„Seht ihr da unten? Alles schwarz. Das sollte heller sein. Bei euch ist das komplett verkohlt. Deshalb kommt da kein Zündfunke rüber.“

„Und deshalb ist er nicht angesprungen?“, fragten Mona und ich fast synchron.

Er nickte.

„In eurem Motor sind alte Dichtungen, die sich mit der Zeit auflösen und mit verbrennen. Deshalb diese Verrußung.“

„Was kann man dagegen tun?“, fragte Mona.

„Wenig. Ein neuer Motor? Aber das lohnt sich bei dem Wagen ehrlich gesagt nicht mehr.“

Alle Farbe wich aus meinem Gesicht. Das war das Ende. Wie ich es gesagt hatte. Aber Mona wollte ja nicht auf mich hören. Doch ehe die Halle sich zu drehen begann und die Schnappatmung bei mir einsetzte, fuhr der Chef fort: „Wir haben eure Zündkerzen ausgetauscht. Er springt wieder ohne Probleme an. Aber wie lange das hält, kann ich nicht sagen. Ein Benzinschlauch war feucht, den haben wir gleich mit ausgetauscht. Ansonsten konnten wir nicht viel machen.“

„Er fährt jetzt aber?“, fragte ich leise.

„Ja, erst einmal. Aber wie gesagt, wie lange das hält, weiß ich nicht.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Okay“, sagte ich mehr zu mir als zu den anderen um mich herum. Das war eine schlimme Nachricht, aber vielleicht noch nicht Woodys Todesstoß. „Was kriegen Sie?“

Er gab uns ein Zeichen, ihm ins Büro zu folgen.

„86 Euro“, las Mona den Endbetrag auf der Rechnung vor. „Das ist doch ein Schnäppchen!“

Ich zählte das Geld gerade ab, als Mona noch eine Frage stellte.

„Können wir die Zündkerzen auch selbst austauschen?“

„Klar“, antwortete der Mann. „Francesco zeigt euch, wie das geht.“

Wir kauften ein weiteres Paket Zündkerzen und bekamen vom Werkstattleiter einen alten, aber passenden Zündkerzenschlüssel geschenkt. Offensichtlich hatte er Mitleid mit uns. Danach wies uns der Mechaniker Francesco in die Geheimnisse des Zündkerzentauschs ein, was zwar ein wenig kniffelig war, aber keine allzu große Herausforderung für uns darstellen sollte.

Als wir mit Woody, der dieses Mal vorbildlich angesprungen war, durch die Ausfahrt der Werkstatt fuhren, strahlte Mona, als wäre nichts geschehen.

„Siehst du. Er hat sich billig gemacht!“

In mir sah es jedoch anders aus. Wie ein Mantra wiederholte ich still folgende Worte: „Wenigstens eine Saison noch. Du musst wenigstens diese Saison noch durchhalten, Woody!“


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