Leseprobe: „Bis einer nicht mehr aufsteht“

Montag

Der Hieb schoss wie ein Peitschenschlag über den Korridor. Grölend schoben die Gaffer auf die beiden Jungen zu. Immer dichter schlossen sie den Kreis um den am Boden liegenden Schüler und den auf ihn eintretenden Teenager.
»Hast du es?«, schrie Justin. »Hast du es endlich?« Dabei trat er erneut auf sein Opfer ein, das sich vor Schmerz krümmte.
»Gleich, Digger, sieht schon gut aus. Noch einmal auf die Nuss, aber dass sich der kleine Wichser nich‘ wieder wegdreht«, gab Erkan hinter der Handycam seine Regieanweisungen. Noch während er dies sagte, hämmerte ein Faustschlag auf Dennis nieder, woraufhin Blut aus seinem Mund in Richtung der geifernden Menge spritzte.
»Igitt«, kreischte ein dreizehnjähriges Mädchen, das dank Make-up, Kajal und Lippenstift in jede Disco auf dem Kiez gekommen wäre. Dabei sprang sie mit einem Satz nach hinten und wischte sich den Blutstropfen von der Hand.
Schlagartig teilte sich die Menge. Ein groß gewachsener, muskulöser Typ drängte sich in die Mitte des Geschehens.
»Was soll das jetzt schon wieder?«, fragte Omid Justin. »Lass ihn doch einfach mal in Ruhe. Oder legst du’s drauf an, von der Schule zu fliegen?«
Omids Augen streiften Sophie, die kurz nach ihm in den Kreis getreten war. Ein letztes Mal krachte es, dann ließ Justin von dem jüngeren Schüler ab.
Langsam richtete sich Dennis auf. Sein Gesicht war mit Blut und Tränen verschmiert. Mit der rechten Hand hielt der Junge seine Rippen, während er mit der linken nach der Brille suchte. Sophie eilte ihm zu Hilfe.
»Echte Helden seid ihr! Und alles nur für einen kurzen Film im Netz. Dümmer geht’s nicht!«
»Frauen versteh’n davon nichts.« Dabei boxte Justin seinem Freund mit der Handycam spielerisch in die Seite. »Echte Kerle prügeln sich eben. Nicht wahr, Dennis?«
Plötzlich strömten die Teenager auseinander. Frau Schnitzler eilte den Gang hinunter. Instinktiv wusste die Lehrerin, dass ein Pulk Teenager nichts Gutes bedeutete. Und ein Pulk, der sich auflöste, signalisierte ihr, dass sie zu spät kam, um durch ihr Eingreifen Schlimmeres zu verhindern.
Als sie endlich bei der Gruppe ankam, begutachtete Dennis gerade seine Brille. Wahrscheinlich war einer der Gaffer draufgetreten, so wie jedes Mal, wenn er zum Opfer dieser Schläger wurde.
Justin stand grinsend daneben. Erkan hatte sicherheitshalber sein Handy weggesteckt.
»Da ist der Dennis wohl wieder mal gefallen«, begrüßte Justin Frau Schnitzler.
»Du weißt ja, wo das Büro des Direktors ist, oder Justin?«
Die Lehrerin nahm Dennis am Arm, um dem Jungen beim Aufstehen zu helfen. Unterdessen suchte Sophie Dennis‘ Sachen zusammen, die auf dem Boden verstreut herumlagen.
»Was kann ich denn dafür, wenn sich Dennis immer wieder hinlegt? Du bist doch gefallen. Los, Dennis, sag ihr, dass du von alleine auf die Fresse gefallen bist!«
Ein Blick wechselte vom Täter zum Opfer.
Dennis richtete seinen Blick auf den Boden. »Nichts passiert. Wirklich, Frau Schnitzler.«
»Ins Büro des Direktors, sagte ich. Und keine Diskussionen mehr.«
»Aber ich …«, versuchte es Justin ein letztes Mal, ehe er feststellte, dass Frau Schnitzler gefährlich schnell eine unmissverständliche Härte in ihren Gesichtsaudruck legen konnte.
»Bin schon unterwegs.«
Justin schnappte sich seinen Rucksack und schlurfte davon.
»Soweit ich weiß, hast du jetzt Erdkunde bei Herrn Fröhlich, Erkan. Oder nicht?«
Der Schüler nickte. Auch die restlichen Gaffer reagierten auf diese Aufforderung. Omid sah von der Lehrerin zu Sophie, die ihn mit einem zornigen Blick anstarrte. Dann schloss er sich seinen Mitschülern an, um seinen Klassenraum aufzusuchen. Als sich Frau Schnitzler erneut Dennis zuwandte, legte Erkan im Weggehen, unübersehbar für Dennis, den Zeigefinger auf den Mund. Klar, Dennis sollte die Klappe halten.
»Arschloch«, murmelte Sophie, die Erkans Geste mitbekommen hatte.
»Und du hast keinen Unterricht, Sophie?«, fragte die Lehrerin mit einer professionellen Freundlichkeit, die sie sich über die Jahre hinweg in diesem Beruf angeeignet hatte.
Das Mädchen warf sich ihre Tasche über die Schulter. Sie ging ein paar Schritte in Richtung ihres Klassenraums, blieb dann aber noch einmal stehen. Mit den Blick auf den Boden gerichtet sagte Sophie: »Die Schläger kommen immer wieder durch mit dem Mist. Und keiner unternimmt was, bis es zu spät ist.«
»Zu spät?« Frau Schnitzler zog ihre linke Augenbraue hoch. Sophie drehte sich zu der Lehrerin um. Sie sahen einander in die Augen.
»Bis einer nicht mehr aufsteht. Bis einer vielleicht mal stirbt.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, lief Sophie den Korridor hinab. Ihre Schritte hallten in den Gängen nach, bis sie mit dem Zuschlagen einer Tür endgültig verstummten.
Mit einem Mal war es still um Frau Schnitzler und Dennis. Nur ein paar ferne Geräusche von rückenden Stühlen und giggelnden Mädchen erinnerten daran, dass sie sich in der Schule befanden.
»Was ist wirklich passiert?«
»Sie wissen, dass ich nicht drüber reden kann. Dann machen die Brei aus mir.«
»Und was machen die jetzt mit dir?«
Die Lehrerin wusste aus ihrer langjährigen Berufserfahrung, dass solche Gespräche selten erfolgreich verliefen. Dafür hatten die Opfer viel zu große Angst. Schon seit Jahren bestimmte dieses Gefühl das Verhalten der Schüler untereinander. Und von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer.
»Ich kann nicht.«
»Gut, dann musst du auch zum Direktor.«
Ruckartig schoss Dennis‘ Kopf zur Seite.
»Nach der Schule«, beruhigte sie ihn. Natürlich wusste Frau Schnitzler, dass Dennis jetzt nicht daran gelegen war, auf seinen Peiniger zu treffen, der inzwischen bei der Schulleitung eingetroffen sein musste.

***

»Und weshalb bist du jetzt wieder bei mir?« Herr Friedrich, der Direktor der Schule, atmete tief ein. Auch wenn solche Gespräche zu seiner Arbeit gehörten, wünschte er sich mittlerweile nur noch eins: Er wollte einmal einen Tag erleben, an dem nicht ein Schläger auf dem Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches landete.
»Was weiß ich? Fragen Sie Frau Schnitzler!«
Justin war wie immer besonders hilfreich.
»Vielleicht eine Rangelei?«, versuchte Herr Friedrich, das Gespräch zu starten.
»Nee, nich‘ dass ich wüsste. Der Dennis ist mal wieder gefallen, und die Frau Schnitzler meint wohl, dass ich damit was zu tun hab.«
»Und das hast du natürlich nicht?«, fragte der Direktor, der seinen Unglauben über Justins Geschichte in seinem Tonfall durchklingen ließ. Justin schüttelte den Kopf. Danach sahen sich beide sekundenlang in die Augen.
»Was soll ich mit dir machen, Justin? Schon wieder ein Schulverweis?«
»Aber ich hab doch gar nichts …«, ein Seufzer entfuhr dem Schüler, der gleichzeitig eine Idee zu haben schien. »Na ja, wenn’s denn sein muss. Ein paar Tage frei können ja niemandem schaden.«
Während er dies sagte, grinste er Herrn Friedrich an.
»Du legst wohl keinen großen Wert auf einen Abschluss?«
»Wieso? Meine Noten sind doch gar nicht so schlecht! Von der Fünf in Deutsch mal abgesehen.«
Immer noch lag das selbstgefällige Grinsen auf Justins Gesicht.
»Aber deine Fehlzeiten.«
Von seinen Problemschülern hatte der Direktor alle Daten griffbereit auf seinem Laptop. Er öffnete eine Tabelle auf dem Desktop und fand gleich Justins Eintragungen über die Stunden, die der Junge unentschuldigt gefehlt hatte.
»Ich sehe hier, dass du schon hart an der Grenze liegst.«
»Na und?« Justin zuckte mit den Schultern. Gleichzeitig zuckte das rechte Augenlid, das sich immer bei unangenehmen Situationen selbstständig machte.
»Ich rede später mit Frau Schnitzler«, schlug der Direktor vor.
Für gewöhnlich ließ Herr Friedrich eine angespannte Situation zunächst abkühlen, ehe er sich mit allen Beteiligten noch einmal an einen Tisch setzte, um nach einer Lösung zu suchen. Auch in diesem Fall hielt er diese Taktik für die beste Herangehensweise.
»Geh jetzt in deinen Unterricht.«
»Und was ist mit meinem Abschluss?«, fragte Justin, als er bereits im Begriff war, das Büro zu verlassen.
»Ich würde vorschlagen, dass du dir keine Fehlzeiten mehr erlaubst. Sonst wird es eng.«
Herr Friedrich sah wieder auf seinen Laptop. Er spürte den Blick seines Schülers auf sich ruhen. Eine Mischung aus Wut und Hilflosigkeit lag darin. Aber der Direktor schenkte Justin keine weitere Beachtung.

***

Nach der Unterrichtsstunde traf Justin auf dem Schulhof seine Freunde. Erkan war gerade dabei, die Aufnahme auf seiner Handycam herumzuzeigen.
Justins Gang bestand ausschließlich aus Jungen, die mit ihm, Erkan und Omid im Getto lebten. So nannten sie ihre Wohnsiedlung, die aus unzähligen, lieblos aneinandergereihten Hochhäusern bestand, in der es ausnahmslos Sozialwohnungen gab. Das Getto war der Lebensraum der Teenager. Es war eine Art Parallelwelt, in der die Regeln nicht galten, die es in anderen Stadtteilen vielleicht noch gab. Im Getto regierte das Gesetz des Stärkeren. Nicht zuletzt dank der Jugendgangs, die sich in diesen Siedlungen so zwangsläufig entwickelten, als wären sie ein neuer Schritt auf der Evolutionsleiter der Menschheit.
Zu der Gang von Justin gehörten neben Erkan und Omid auch Milan, Rico und Dave. Dave ging seit letztem Jahr nicht mehr zur Schule. Dass er zweimal hintereinander sitzen geblieben war, war die Hauptursache für seinen Rausschmiss gewesen. Die vielen Schlägereien und Fehlstunden wurden dabei zur Nebensache.
Als Schulabbrecher stieg Dave zu einem Idol für Milan und Rico auf, die eine Klasse unter Erkan, Justin und Omid waren. Für die drei Älteren blieb Dave einfach nur ihr Kumpel, auch wenn sie jetzt weniger Zeit miteinander verbrachten.
»Hey, was geht ab, Digger?«, begrüßte Justin zuerst Omid. Dabei reichten sie sich die Hand, führten ein paar Drehungen mit den Handgelenken aus, klatschten die Handflächen ineinander und stießen mit der rechten Schulter zusammen.
»Alles klar«, sagte Omid, dessen Hautfarbe dem warmen Braun eines starken Latte Macchiatos ähnelte. »Und bei dir? Was sagt der Direx?«
»Was schon? Die können mir nichts. Ich muss nur noch mal mit Dennis reden, damit der dichthält.«
»Hab ich schon!«, sagte Erkan mit einem fiesen Lächeln im Gesicht, der nun sein Handy Justin reichte.
»Zeig mal, Digger. Is‘ wenigstens fett Blut zu sehen oder brauchen wir noch ’ne zweite Fassung?«
Omid drehte sich von seinen Freunden weg, die nun gemeinsam ihren Film begutachteten. Sein Blick schweifte über den Schulhof. Er war auf der Suche nach etwas, nach jemandem. Hoffentlich bemerkte es niemand. Sein Herz schlug für einen Moment einen winzigen Tick stärker, als er sie entdeckte. Sophie, die wie üblich ihre Nase in ein Buch steckte. Justin riss ihn aus seinen Gedanken: »Das is‘ voll krass. Man kann sogar das Blut sehen, wie es auf Melanie spritzt.«
Omid schüttelte fast unmerklich den Kopf, während seine Freunde sich an ihrem Morgenprojekt ergötzten.
»Voll fett, hier, guck mal, das Blut. Krass, Alter!« Dabei deutete Erkan mit seinem Zeigefinger auf das Display seines Handys.
Die Jungs krümmten sich vor Lachen. Omid stand daneben und fragte sich, was er von den beiden überhaupt wollte. Justin und Erkan waren nicht besonders clever, hatten immer Ärger im Kopf, wurden öfter der Schule verwiesen als alle anderen, die er kannte, und zudem verstrickten sie ihn immer in Sachen, die er schon am darauffolgenden Tag wieder bereute.
Aber natürlich wusste Omid auch, dass es besser war, die Mitglieder der Black Amigos zu seinen Freunden zu zählen. Black Amigos, das war der Name der Gang, die Justin, Erkan und Dave vor mehreren Jahren gegründet hatten und der nun auch Omid angehörte. Diese Gang bestimmte, wer das Sagen an dieser Schule hatte, aber vor allem, wer es im Getto hatte. Wenn man unversehrt in diesem Viertel überleben wollte, war es besser, auf der Seite der Black Amigos zu stehen als auf der Seite von Typen wie Dennis. Das wusste Omid aus eigner Erfahrung. Deshalb war er gerade an Tagen wie diesen davon überzeugt, dass er durch seine Mitgliedschaft in der Gang seine jüngeren Geschwister schützte, auch wenn er sonst hin und wieder an seiner Freundschaft zu Erkan und Justin zweifelte. Niemand wagte es, sich die Black Amigos zu seinen Feinden zu machen. Nicht zuletzt deshalb hielt Omid zu seinen Freunden.
Nach wenigen Minuten langweilte der Film Justin. »Was machen wir heute Nachmittag?«, fragte er in die Runde.
»Wir treffen uns im Loch, so wie immer«, sagte Milan.
Darauf knallte Justin Milan seine flache Hand an die Stirn. »Klar doch! Aber was machen wir da?«
Erwartungsvoll starrte Justin von Omid zu Erkan und wieder zurück.
»Es ist Montag. Ich muss Aisha zum Nachhilfeunterricht bringen. Wie jede Woche«, erklärte Omid.
Justin verdrehte die Augen.
»Bei uns ist das eben so. Wir passen auf unsere Schwestern auf«, rechtfertigte Erkan seinen Freund Omid, dem Justins Reaktion egal zu sein schien.
»Worauf aufpassen? Sie geht noch mal zur Schule und wieder zurück. Was soll da schon passieren?«
Dass Omids Eltern Angst hatten, Gangs wie die Black Amigos könnten ihrer Tochter auflauern und ihr etwas antun, erwähnte Omid nicht. Er war es leid, immer wieder dieselbe Diskussion mit Justin zu führen.
»Ich komm später nach«, sagte Omid deshalb nur mit Nachdruck.
Für einen Moment versuchte Omid, in den Augen von Sophie so etwas wie Halt zu finden. Justin folgte seinem Blick. Schnell sah Omid zu Boden.
»Ich komm gegen sieben ins Loch!«

***

Als Omid nach der Schule zu Hause ankam, stand das Essen schon auf dem Tisch. Das war nicht ungewohnt für den Teenager, der jeden Tag gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern das Mittagessen zu sich nahm. Nur der Vater fehlte, so wie jeden Tag unter der Woche, da er erst später von der Arbeit nach Hause kam. Zum Abendessen waren sie jedoch immer vollzählig. Der Vater bestand darauf.
Seine Geschwister saßen bereits auf ihren Plätzen am Tisch. Die Mutter stellte die letzte Schüssel mit dem Salat zu den anderen, aus denen es köstlich duftete.
Auf Dari, einer der neunundvierzig Sprachen seines Herkunftslandes Afghanistan, sagte seine Mutter: »Wasch dir die Hände. Wir warten auf dich.«
Während der Mahlzeit unterhielt sich die Familie in ihrer Herkunftssprache. Nur ab und an flog ein deutsches Wort durch den Raum, wenn eines der Kinder nicht schnell genug auf den afghanischen Zwilling des Ausdrucks kam.
Eine lebhafte Atmosphäre begleitete das Essen aus Lammfleisch, Gemüse und Reis, an dessen Ende die Töchter den Tisch abräumten und ihrer Mutter in der Küche beim Abwasch halfen. Omid zog sich in sein Zimmer zurück. Der jüngste Spross der Familie, sein sechsjähriger Bruder Ahmed, setzte sich vor den Fernseher.
Omid war der Einzige in der Familie, der ein Zimmer für sich alleine hatte. Seine Schwestern teilten sich einen Raum, und der Kleinste schlief im Zimmer der Eltern. In der Abgeschiedenheit seines Zimmers legte sich Omid auf sein Bett. Er hatte noch Hausaufgaben zu machen, bevor er Aisha zur Nachhilfe bringen musste. Aber Mathe und Erdkunde waren schnell erledigt.
Omid griff zu seiner Gitarre. Mit geschickten Fingern zupfte der Fünfzehnjährige an den sechs Saiten, und mit einem Mal erfüllte eine traurige Melodie den Raum, die ihren Ursprung in seinem Geburtsland hatte. Er konnte sich nicht genau an den Text erinnern. Irgendwie ging es in diesem Lied um eine Frau und einen Mann und das ganze alberne Zeugs, mit dem er eigentlich nichts zu tun haben wollte.
Omid genoss diese Momente der Stille in seinem Zimmer. Um so mehr störte es ihn, dass jemand schlagartig seine Tür aufriss. Seine Schwester Aisha stand darin und grinste ihn an.
»Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du anklopfen sollst«, fauchte Omid seine Schwester auf Deutsch an.
»Ist da jemand ein wenig gereizt?«, antwortete Aisha auf Dari.
»Was willst du?«
»Ich muss zum Nachhilfeunterricht.«
Das Gespräch taumelte zwischen den beiden Sprachen hin und her. Weder Aisha noch Omid schienen in die jeweils andere Sprache wechseln zu wollen. Diese Auseinandersetzung führten sie oft. Ihre Gespräche fanden selten in einer einzigen Sprache statt. Auch wenn sich Omid wie seine Schwester immer mal wieder nach seinem Heimatland sehnte, in dem er die ersten acht Jahre seines Lebens verbracht hatte und in dem sie viele Verwandte zurückgelassen hatten, wusste er doch auch, dass er nun in einem anderen Land sein Leben fortführen musste. Und wenn er hier erfolgreich sein wollte, brauchte er einen guten Schulabschluss, den er nur erlangen konnte, wenn diese gottverdammte Sprache sich endlich perfekt in sein Hirn einbrannte.
»Ich weiß. In einer Stunde. Und?«
»Nur falls du es vergessen hast«, antwortete sie wieder auf Dari.
Kopfschüttelnd sah er zu seiner Schwester.
»Wenn du ab und zu auch zu Hause deutsch reden würdest oder zur Abwechslung mal deine Schulaufgaben machen, dann bräuchtest du vielleicht gar keine Deutsch-Nachhilfe mehr, und ich könnte meine Zeit für sinnvollere Dinge nutzen.«
»Dich mit deinen bescheuerten Freunden treffen? Oder würdest du lieber auf deinem Bett sitzen und dämliche Schnulzen spielen?«
Omid griff zum Kissen und holte gerade zum Wurf aus, als Aisha schon die Tür hinter sich zuknallte.

***

Das Feuer eines Maschinengewehrs ratterte durch die Kopfhörer bis zu seinem Hirn. Auf dem Bildschirm sah er den Lauf seiner Waffe, wie sie die Gegner nacheinander niedermetzelte. Munition, Blut und Körperteile flogen, untermalt von menschlichen Schreien, über den Bildschirm.
»Nimm das, du Schwein.«
Er grinste, als seinem virtuellen Gegner der Kopf explodierte. Mehrmals feuerte er auf den am Boden liegenden, kopflosen Körper, der dabei zuckte wie ein geschlachtetes Ferkel.
Seine Finger flogen über die Tastatur, wechselten die Ansicht, die Waffe und den Modus im Sekundentakt, ohne dabei von den Augen kontrolliert zu werden, die wie gebannt das Geschehen am Monitor verfolgten.
»Und jetzt ihr.«
Eine virtuelle Handgranate zerfetzte ein Haus, das danach nur noch aus blutverschmierten Steinen und einer Rauchwolke bestand.
Erneut grinste er abfällig. »Ihr seid nichts als Wichser. Euch zerquetsch ich wie Kakerlaken!«
Die Tür hinter ihm öffnete sich fast lautlos. Dennoch erkannte er die Bewegung im Spiegelbild des Monitors. Eine rasche Fingerbewegung wechselte vom Ego-Shooter zu seinen Hausaufgaben.
»Schatz, kommst du essen?«
Ehe er sich zur Tür umdrehte, verwandelte sich der knallharte Gesichtsausdruck eines Killers in das Gesicht eines Kindes.
»Bin gleich da, Mami. Muss nur noch diesen Satz zu Ende schreiben.«

***

Stille empfing Justin, als er nach der Schule in die Wohnung trat. Mit einem Schwung schmiss er seinen Rucksack auf den Fußboden im Flur und kickte seine Schuhe daneben. Dann ging er in die Küche. Der Blick in den Kühlschrank verriet ihm, dass seine Mutter wieder einmal vergessen hatte einzukaufen. Neben Bierflaschen und einer halb leeren Margarine befand sich nur noch ein vergammelter Kopf Salat im Gemüsefach.
»Mist«, murmelte Justin.
Ein weiterer Blick ins Gefrierfach zeigte, dass auch die Tiefkühlpizza aus war. Er ging zurück in den Flur. Ohne zu klopfen, öffnete er die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter. Im abgedunkelten Raum sah er ihre Umrisse. Sie lag noch im Bett. Neben ihr erkannte er eine weitere Gestalt.
»Toll. Hab ich wohl wieder einen neuen Daddy«, warf Justin sarkastisch in den Raum.
»Verdammt, wo bin ich?«, fragte eine Männerstimme, der man die zwei Packungen Zigaretten pro Tag anhörte.
»Justin, mein Junge, musst du nicht zur Schule?«, fragte seine Mutter.
Mit einem Knall schloss Justin die Tür, mit der er nicht eine einzige schöne Erinnerung verbinden konnte. Er ging an die Garderobe. Wenn er Glück hatte, dann war seine Mutter wenigstens beim Amt gewesen und hatte jetzt wieder Geld in der Tasche. Das war am Zehnten eines Monats nicht ganz ausgeschlossen. In der Geldbörse fand er jedoch nur ein paar nicht eingelöste Pfandscheine von Mehrwegbierflaschen des Discounters an der Ecke.
Wenigstens etwas, dachte sich Justin und schob sich die kleinen Papierschnipsel in die Hosentasche. Seine Mutter würde nicht bemerken, dass sie fehlten.
Hinter ihm öffnete jemand die Schlafzimmertür. Seine Mutter trat heraus. Sie sah ihren Sohn mit der Geldbörse in der Hand. Mit ihrem Handrücken rieb sie sich ihre verschnupfte Nase.
»Es ist kein Geld mehr da. Am Fünfzehnten krieg ich wieder was vom Jobcenter.« Dabei drehte sie sich in Richtung Küche, auf deren Tisch sie neben diversen leeren Bierflaschen auch eine Packung Zigaretten erspähte. Sie griff danach, öffnete sie und knüllte kurz darauf die leere Schachtel zusammen.
»Verdammt.«
Justin nahm sich unter der Spüle eine leere Tüte heraus und sammelte die Pfandflaschen zusammen.
»Was willst du damit?«, wollte die Mutter wissen.
»Ich habe Hunger!«, antwortete der Sohn.
»Ich brauch die Flaschen aber noch!«
Justin sah in die Augen der Frau am Küchentisch, die angestrengt an ihren Fingernägeln kaute.
»Für Zigaretten«, fügte sie erklärend hinzu. »Wir waren doch mal bei der Essensausgabe am Bahnhof. Geh doch da hin.«
Seine Mutter sah auf den Boden.
»In fünf Tagen hab ich wieder Geld.«
Die Schritte des fremden Mannes näherten sich. Aus dem Flur trat ein großer, am ganzen Körper dicht behaarter Kerl, der Justin mit einem knappen Kopfnicken grüßte.
»Hast du noch Zigaretten?«, fragte die Mutter.
»Nö.«
Wie selbstverständlich ging der Mann zum Kühlschrank, nahm sich eine Flasche Bier und setzte sich an den Tisch. Über der Stuhllehne hing seine Lederjacke. Nachdem er die Flasche mit einem Zug halb geleert hatte, nahm er seine Brieftasche heraus, gab Justin einen Fünf-Euro-Schein und sagte: »Das müsste für ein Essen reichen.«
Justin griff nach dem Geld und ging.
»Wenigstens Danke kannst du sagen«, hörte er seine Mutter hinter ihm herrufen, ehe die Haustür ins Schloss fiel.

***

»Das macht dann fünf Euro zwanzig.«
»Ist das mit Pfand?«
»Ja, aber nur auf die drei großen Flaschen, Frau Brunner.«
»Wie bitte?«
»Die großen Flaschen«, wiederholte Sophie noch einmal deutlich lauter und deutete dabei auf die drei Sprudelflaschen.
Die Rentnerin lächelte und gab Sophie ihre Geldbörse.
»Sie nehmen sich das Geld bitte heraus. Ich alte Frau komme ja mit den neuen Münzen so gar nicht zurecht. Und dann seh ich auch immer schlechter.«
Sophie nahm das Geld aus dem Portemonnaie, zählte es Frau Brunner noch einmal vor und packte dann den Einkauf der älteren Dame in eine Plastiktüte.
Wie jeden Tag half sie ihrem Vater direkt nach dem Mittagessen in seinem Kiosk für ein bis zwei Stunden aus. Manchmal blieb sie auch ein wenig länger, wenn es nötig war. Aber das kam nur selten vor und Sophie machte es mittlerweile auch nichts mehr aus.
Nachdem ihre Mutter vor vier Jahren an Krebs gestorben war, versuchte der Vater so gut es ging, sich und seine Kinder über Wasser zu halten. Die kleine Familie bestand aus dem Vater, Sophie und ihrem elfjährigen Bruder Jonas, dem sie mittags das Essen zubereitete und der danach den Küchendienst übernahm. Während sie sich um die wenigen Kunden in der Nachmittagszeit kümmerte, erledigte der Vater die Bestellungen, füllte Regale auf und ging seiner Buchhaltung nach. Die Familie funktionierte wie ein gut eingespieltes Fußballteam. Jeder übernahm die Aufgaben, die ihm zugeteilt wurden, und keiner murrte. Die Einnahmen des kleinen Unternehmens machten die Familie nicht reich, aber sie genügten, um alle gut durchs Leben zu bringen.
Justin raste am Verkaufsfenster des Kiosks vorbei. Dabei rempelte er Frau Brunner an, die gerade ihre Geldbörse zu ihren Einkäufen in die Plastiktüte fallen ließ. Die Rentnerin wankte, hielt sich dann aber doch mithilfe ihres Gehstocks auf den Beinen.
»Rüpel!«, schimpfte sie Justin hinterher.

***

Omids Mittagsruhe verflog viel zu schnell. Er hatte seine Hausaufgaben erledigt und hätte sich gerne noch auf sein Bett gelegt, um sich seinen Gedanken und Träumen hinzugeben. Das tat er oft. Sich einfach nur fallen lassen, die alte Heimat, die Großmutter, das Dorf in den Bergen und die vielen Tiere auf dem Hof wieder vor seinem geistigen Auge lebendig werden lassen. Aber heute ging es eben nicht. Aisha wartete.
Gemeinsam fuhren die Geschwister mit dem Fahrstuhl, auf dessen Wänden sich fast alle Jugendlichen des Hauses mit Kritzeleien verewigt hatten, ins Erdgeschoss. Von dort aus gingen sie an der Parkanlage entlang zur Straße. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Mit fünfzehn und dreizehn Jahren waren sie in einem Alter, in dem sich Teenager gerne zofften. Omid war der Ältere und wurde von seiner ewig nörgelnden Schwester häufig zur Weißglut getrieben. Dass er dennoch seiner Pflicht als großer Bruder nicht entkommen konnte, dafür sorgte ihr Vater.
Sein Vater war ein strenger Mann, der sein Leben in Deutschland mit gemischten Gefühlen betrachtete. Jeden Tag dankte er Allah dafür, dass er seine Familie aus Afghanistan hatte herausbringen können und nun in einem fremden Land eine Arbeit hatte, die ihn und die Seinen ernährte. Andererseits erkannte er auch die Tücken, die diese fremde Stadt mit sich brachte, und welchen Gefahren seine Kinder hier ausgesetzt waren. Das Leben in der Neubausiedlung verstärkte das Gefühl des Vaters, dass seine neue Heimat ein Ort mit wenig Anstand und einer fremden Moral war. Jeden Tag, wenn der Vater morgens um fünf Uhr aus dem Haus ging, in den verschmierten Fahrstuhl stieg, an der verdreckten Haltestelle auf seinen Bus wartete und dann mit seinen bereits zum Frühstück Bier trinkenden Kollegen seine Frühschicht begann, fragte er sich, was für eine Zukunft seine Kinder in diesem Land erwartete.
Omid war während der Abwesenheit seines Vaters das Familienoberhaupt. Seine Hauptaufgabe in dieser Zeit bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Werte seines Vaters von allen Familienangehörigen eingehalten wurden. Natürlich wäre seine Schwester lieber alleine zum Nachhilfeunterricht gefahren und hätte sich danach mit ihrer Freundin getroffen, um über süße Jungs, Schminke und angesagte Musik zu quatschen. Aber das wollte sein Vater nicht. Eine Frau hatte ab einem bestimmten Alter auf ihren Ruf zu achten, vor allem in diesem Land, fern von Afghanistan, in dem Teenager Alkohol tranken, Drogen nahmen und Sex schon früh ein Thema war.
Nachdem Omid seine Schwester in die Schule gebracht hatte, ließ er sich auf der Bank am äußersten Ende des Schulhofs nieder und drehte sich eine Zigarette. Er nahm seinen MP3-Player heraus, suchte die passende Musik und lauschte den Klängen seiner Heimat.
Der Zigarettenrauch stieg auf. Omid blickte der sich ausbreitenden Rauchwolke hinterher, bis eine Windböe sie auseinandertrieb. Im Takt der Musik wippte sein Fuß. Er nahm wieder einen Zug, blies ihn dieses Mal aber unter lautem Husten gleich wieder aus.
»Verdammt!«
»Warum versuchst du es überhaupt?«, fragte eine Stimme von hinten.
Es war Dave, der sich daraufhin neben Omid niederließ.
»Rauchen is‘ was für Idioten«, fügte Dave noch hinzu und reichte Omid eine Packung Kaugummis.
»In meiner Familie rauchen alle Männer. Das gehört irgendwie dazu, um ein Mann zu werden. Wie einen Bart kriegen und der ganze Scheiß.«
»Müsst ihr auch ein Tier erlegen?« Dave schmunzelte.
»Wo warst du die letzten Tage? Justin hat sich schon Sorgen gemacht.«
Dave lugte zu seinem Kumpel rüber. Voller Stolz sagte er: »Ich hatte da ’ne richtig fette Sache laufen. Kann da jetzt nicht drüber reden. Aber das gab echt Kohle. 2000 Tacken auf einen Schlag.«
Omid wollte von Daves Geschichten lieber nichts wissen. Eigentlich bemühte sich Omid immer, sich aus den krummen Geschäften seiner Freunde herauszuhalten. Meistens klappte das auch. Um ein wenig Interesse vorzutäuschen, fragte er: »Is‘ was vom Laster gefallen?«
»Eine ganze Ladung Notebooks! Ich hätte dir ja eins mitgebracht, aber der Typ hat gesagt, dass es besser ist, wenn man nichts zu uns zurückverfolgen kann. Die Geräte sind jetzt alle auf dem Weg nach Berlin. Von dort geht es dann weiter in den Osten. Aber ich sollte lieber meine Fresse halten.«
Dave sah auf den Boden und grinste dabei wie ein Typ, der gerade von seinem Sechser im Lotto erfahren hatte.
»Du verstehst schon. Das sind echt harte Kerle. Echte Profis, Mann. Und wenn ich Glück hab, dann bin ich jetzt öfter dabei. Dann mach ich richtig Schotter!«
»Ich verstehe.« Omid war froh, das Thema endlich beenden zu können.
»Du kommst ins Loch?«, fragte Dave, der wieder auf dem Sprung war.
»Gegen sieben, schätze ich.«
Dave verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Zurück blieb Omid, der sich die Kopfhörer in die Ohren steckte und wieder alleine auf seine Schwester wartete.

***

»Ein Döner und ’ne Coke.«
Justin bestellte nicht zum ersten Mal sein Mittagessen beim türkischen Imbiss unweit seiner Wohnung. Wenn seine Clique nicht gerade im Loch abhing, trafen sie sich meistens auf dem kleinen Platz, an dem ein Supermarkt, der Imbiss und ein Kiosk lagen. Der betonierte Siedlungsmittelpunkt war von ein paar Grünflächen gesäumt, auf denen junge Bäume ums Überleben kämpften. Wichtiger waren an diesem Ort jedoch die Sitzbänke, die die Anwohner rege als Treffpunkt nutzten. Allerdings nur dann, wenn die Holzbretter der Bänke nicht, wie so oft, ein paar nächtlichen Randalierern zum Opfer gefallen waren.
Justin nahm seine Bestellung, zahlte und setzte sich auf die Lehne einer Bank, von deren Sitzfläche zwei Bretter fehlten. Er packte den Döner aus, stellte die offene Dose auf das letzte Brett der Sitzfläche und biss hungrig in das türkische Sandwich.
Verdammte Mutter. Wieder einmal waren ihr die Kippen und der Alk wichtiger als ihr Sohn. Gestern hatte sie noch für einen großzügigen Vorrat an Bier gesorgt. Im Discounter, wo ein halber Liter nur ein paar Cent kostete. Dass ihr lieber Sohn vielleicht auch ab und zu gerne etwas zu essen vorfinden würde, wenn er von der Schule nach Hause kam, daran hatte sie, wieder einmal, nicht gedacht.
Justin kannte das Gefühl, mit Hunger ins Bett zu gehen. Es lag allerdings nicht daran, dass seine Mutter die Heute-Abend-gehst-du-ohne-Abendbrot-ins-Bett-Masche zu erzieherischen Zwecken eingesetzt hätte. Es gehörte einfach genauso zu seinem Leben wie die kalte Wohnung im Winter, weil seine Mum den Strom für die Nachtspeicherheizung nicht zahlen konnte, oder die Klamotten aus dem Second-Hand-Laden, die schon ein Glücksfall waren, da seine Mutter seine Anziehsachen meist vom Roten Kreuz mitbrachte.
Für seine Markenklamotten sorgte Justin selbst. Mal ein paar Schuhe aus dem Sportgeschäft, dann eine coole Hose aus dem Jeansshop. Dass er nicht zahlte bei seinen sogenannten Einkäufen, störte Justin schon lange nicht mehr. Früher einmal, so mit gerade mal elf Jahren, da hatte er sich noch Gedanken darum gemacht, was Recht und Unrecht war. Heute nahm er sich, was er zum Leben brauchte. Wenn ihn ein Hausdetektiv beim Stehlen erwischte, wurde er von einer Streife nach Hause gebracht. Das war schon dreimal vorgekommen. Bestraft wurde er bislang jedoch nicht, da er bis vor Kurzem unter das Jugendstrafrecht fiel. Meist schenkten ihm die Beamten der Polizei noch einen mitleidigen Blick, wenn sie nachmittags Justins Mutter verkatert aus dem Bett klingelten, um ihren Sohn nach der erstatteten Anzeige zu Hause abzusetzen.
Er biss wieder in seinen Döner, voller Hunger und Hass.
Dave kam um die Ecke.
»Was geht ab, Digger?«, begrüßte der Justin.
Sie führten das altbekannte Begrüßungsritual mit den Händen aus und stießen danach kurz ihre Schultern zusammen. Justin wischte sich den Mund mit der Papierserviette ab.
»Meine Mum hat mich mal wieder zum Essen rausgeschickt.«
Gedankenverloren nickte Dave. Er kannte Justin und seine Mutter. Solange er denken konnte, war Justin ein Teil seines Lebens. Er kannte seine Geschichte, seine Wut und seine Ohnmacht. Denn Dave führte fast dasselbe Leben wie er. Seine Eltern wohnten jedoch noch zusammen. Und neben dem Leben mit einer Alkoholikerin, die tagsüber nicht aus dem Bett kam und ihr Kind ständig vernachlässigte, kam Dave zusätzlich noch in den Genuss der Streitereien seiner Eltern, die nicht selten in Handgreiflichkeiten ausarteten. Als Dave vier Jahre alt gewesen war, hatten das erste Mal Streifenbeamte bei ihnen vor der Wohnungstür gestanden, weil Nachbarn sie wegen nächtlicher Ruhestörung gerufen hatten. Mittlerweile zählte Dave die Tage bis zu seiner Volljährigkeit. Endlich frei sein. Endlich weg.
Erneut biss Justin in das türkische Fladenbrot.
»Willst du?« Er reichte seinem Freund das Essen rüber.
»Lass mal. Ich hab heute selber Kohle.«
Dave holte ein Bündel Fünfziger aus der Jackentasche. Justin nahm die Geldscheine in die Hand. Er versuchte zu schätzen.
»Ein Tausender?«
»Zwei, Digger. Und das ganz einfach. Fast ein Spaziergang.«
Er nahm das Geld zurück, sah nach rechts und links, ehe er das Bündel wieder in seine Jackentasche steckte.
»Wenn ich da richtig einsteige, kann ich dich da vielleicht auch mit reinbringen. Das sind echt coole Typen, Profis eben«, sagte Dave und richtete sich dabei kerzengerade auf.
»Das wäre echt geil. Ich bin total abgebrannt. Meine Alte kriegt gar nichts mehr auf die Reihe. Die versäuft mein Kindergeld und schickt mich dann in die Assi-Küche.«
Justin spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Aber er wollte nichts spüren. Vor allem nicht diesen Schmerz.
»Ich muss auch mal was Größeres drehen. Nicht immer nur die Geschäfte abzocken. Ich brauch Kohle, Mann.«
»Wieso keine Geschäfte? Du musst nur die richtigen Sachen mitnehmen. Zum Beispiel Zigaretten. Die kriegste überall los«, erklärte Dave weltmännisch.
Justin sah von seinem Döner auf. Gegenüber lag der Kiosk, randvoll mit Kippen.

***

»Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?«, fragte die Mutter.
»Mathe schon. Englisch mache ich, wenn ich wiederkomme«, antwortete Dennis.
»Aber nicht wieder kurz bevor du zu Bett gehst.«
»Ich mache sie direkt nach dem Abendbrot. Versprochen. Das dauert nicht lange. Nur so eine dämliche Aufgabe aus dem Übungsbuch. Da bin ich in zehn Minuten mit fertig.«
Dennis‘ Mutter schüttelte den Kopf. Es war jeden Montag das Gleiche, wenn ihr Sohn losging, um seinen Job als Zeitungsbote zu erledigen. Er hatte seine Hausaufgaben nicht gemacht, sondern sich stattdessen vor den Computer gesetzt und eines dieser grässlichen Spiele gespielt, die sie so verabscheute. Er glaubte, sie bekäme das nicht mit, weil sie so oft unterwegs war. Aber seine Mutter wusste genau, was Dennis tat, wenn er für Stunden in seinem Zimmer verschwand.
»Nach dem Abendbrot. Und zwar sofort. Du weißt doch, dass du mit Englisch auf dem Kriegspfad stehst.«
Dennis schnappte sich sein Schlüsselbund, gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und stürzte zur Tür.
»Bin spätestens in zwei Stunden wieder da.«

***

Gemeinsam schlenderten Omid und seine Schwester zur Siedlung zurück. Sie nahmen den Weg durch die Parkanlage zu dem kleinen Platz, an dem der Kiosk lag.
»Ich brauch noch ein paar Kaugummis«, sagte Omid.
»Soll ich mitkommen?«, fragte seine Schwester.
»Kannst ruhig vorgehen.«
Zu ihrem Haus waren es nur noch wenige Meter. Er konnte Aisha beruhigt den Rest des Weges alleine gehen lassen.
Sophie stand noch am offenen Fenster des Kiosks, hinter dem sich ein Verkaufstresen befand. Tagsüber konnte man auch in den Kiosk hineingehen und sich die Ware selbst aussuchen, deren Palette von Getränken und Naschereien bis hin zu den gängigsten Grundnahrungsmitteln reichte. Nach zwanzig Uhr war nur noch das Verkaufsfenster geöffnet. Zu häufig hatte Sophies Vater betrunkene Kunden mit Gewalt vor die Tür setzen müssen. Abends, wenn der Vater hinter dem Tresen stand, wechselten überwiegend Knabbereien, Zigaretten und vor allem Bierflaschen den Besitzer.
Omid betrat durch die offenstehende Tür den kleinen Laden. Sophie füllte gerade die Schokoriegel auf.
»Guten Tag«, murmelte Omid fast flüsternd.
Sophie sah von ihrer Arbeit auf und nickte Omid kurz zu. Danach kümmerte sie sich wieder um das Schokoriegelsortiment.
Hinter den sauren Gurken versuchte der junge Mann, einen Blick auf Sophie zu erhaschen. Als hätte sie es gespürt, schaute sie zurück. Schnell nahm er das Glas mit den Gewürzgurken in die Hand, um mit größtmöglichem Interesse die Zutatenliste zu studieren. Sophie lächelte.
Nach zwei Minuten stellte er das Glas weg, ging durch den Gang mit den Getränken, atmete tief durch und blieb vor dem Tresen stehen, an dem Sophie immer noch mit dem Einsortieren der Schokolade beschäftigt war.
»Hi«, unsicher wippte Omid mit dem Kopf.
»Kann ich dir helfen?«
Er schwieg.
»Suchst du was Bestimmtes?«, fragte sie, ohne dabei das Lächeln in ihrem Gesicht zu verlieren.
Er nickte. Verdammt, wo war seine Selbstsicherheit hin? In diesem Augenblick fühlte er sich so winzig, so verletzlich.
Mit einer piepsigen Stimme begann er: »Ich …«
Er räusperte sich und musste dann auch lächeln.
»Schokolade«, sagte er nun mit seiner rauen, männlichen Stimme. »Du kennst dich doch damit aus. Was würdest du mir empfehlen?«
Sie überlegte kurz reichte ihm dann zwei Riegel.
»Der ist mit Keks und der mit Karamell. Ich mag sie beide.«
Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich in die Augen. Dann, blitzartig, sah Omid auf die Schokoriegel in seiner Hand und räusperte sich erneut.
»Dann probier ich sie beide.«
»Gut. Das macht dann ein Euro sechzig.«
Omid fingerte aus seiner Hosentasche ein paar Münzen.
»Danke«, sagte er beim Verlassen des Kiosks.
»Bis Morgen, Omid.«
Hatte er richtig gehört? Sie hatte ihn bei seinem Vornamen genannt. In der Schule hatten sie nichts miteinander zu tun. Sie gingen in unterschiedliche Klassen. Und trotzdem kannte sie seinen Namen.
Strahlend biss er in einen der Schokoriegel, während er über den Platz zu seinem Hochhaus hinüberschlenderte.

***

Mit einem fast leeren Zeitungswagen bog Dennis in die letzte Straße ein. Nur noch zwanzig Häuser, dann hatte er endlich Feierabend. Er dachte an das Geld, das er heute ausgezahlt bekommen würde. Der Rest, der ihm noch fehlte, um sich seinen langersehnten Wunsch endlich erfüllen zu können. Er hatte im Internet recherchiert, hatte sein Taschengeld in den letzten Monaten gespart und seine Eltern überredet, ihm den Rest des Konfirmationsgeldes auszuzahlen.
Vorige Woche hatte er mit Hilfe seines Vaters das Handy im Internet bestellt. Seine Eltern hatten es vorfinanziert, sagten Dennis aber, dass er das Smartphone erst dann bekäme, wenn er das Geld vollständig gespart hätte. Heute war es endlich so weit.
Er holte eine der Wochenzeitungen heraus, die er in die Briefkästen der Reihenhäuser werfen wollte. Es war eine schöne Wohngegend, in der Gartenzäune die edlen Anwesen vor Eindringlingen schützten, alle Grünflächen gepflegt aussahen und nicht eine kaputte Bierflasche auf der Straße herumlag. Dennis öffnete eine Gartentür, faltete die Zeitung und legte sie auf den Fußabtreter vor die Tür. Bei schlechtem Wetter warf er die Zeitungen in die Briefkästen, aber an trockenen Tagen erlaubte sich Dennis, die Zeitungen einfach vor die Tür zu legen.
Nach einer halben Stunde war er mit dem Austragen der restlichen Zeitungen fertig. Eilig hastete er zurück zur Zeitungszentrale. Ein Umschlag mit seinem Verdienst wartete dort auf ihn.
»Na, ist es endlich da?«, fragte Frau Goldberg, die ältere Dame, die für die Finanzen zuständig war.
»Es ist gestern mit der Post gekommen. Aber erst jetzt habe ich das Geld zusammen«, sagte Dennis. Seine Augen funkelten.
Frau Goldberg sah den Jugendlichen an. Nachdenklich legte sie den Kopf zur Seite. »Schön, dass es solche Jungen wie dich noch gibt. Geld sparen, um sich etwas Schönes zu kaufen. Die meisten jungen Leute kaufen ja heute alles nur auf Kredit.«
Sie schob den Umschlag über den Schreibtisch zu Dennis rüber, der ihn sofort in seiner Jackentasche verschwinden ließ.
»Viel Spaß mit deinem neuen Handy«, verabschiedete sie den Jungen.
»Danke, Frau Goldberg«, sagte Dennis noch. Dann flitzte er durch die Bürotür in den Feierabend.

***

Im Loch saß Justin und wartete auf seine Jungs. Seine Hausaufgaben hatte er noch nicht erledigt. Das hatte Zeit bis morgen früh. Vor der ersten Stunde schnappte er sich meist die Aufgaben eines Mitschülers und schrieb sie ab. Früher war es Sven gewesen, von dem sich Justin die Hefte kurz ausgeborgt hatte. Sven war, wie Dennis, das geborene Opfer gewesen. Aber Sven hatte die Schule gewechselt. Jetzt gab es kein typisches Opfer mehr in seiner Klasse, sodass Justin sich nicht mehr selbst bedienen konnte, sondern fragen musste. Das nervte Justin und war einer der Gründe, warum der jüngere Dennis regelmäßig als Punshing Ball herhalten musste.
Omid kam meist gut vorbereitet in die Schule und überließ Justin ohne Murren seine Hefte zum Abschreiben. In Mathe war Omid Klassenbester. Aber in Deutsch war sein Kumpel nicht ganz so gut. Schließlich kam Omid aus einem fremden Land und mühte sich selbst noch mit dem Genitiv und all dem Zeugs ab. Aber Deutsch fand Justin auch nicht so wichtig, da er Legastheniker war. Das war keine Krankheit, wie die Lehrer seiner Mutter versichert hatten, sondern nur eine Lernschwäche. Seine Mutter hatte ihn dennoch Dummkopf und Idiot genannt, wenn er aus seinen Grundschulbüchern stotternd vorgelesen hatte. Ihr fehlte die Geduld, die Justin benötigt hätte, um mit seiner Schwäche selbstbewusster umgehen zu können.
Mit Möbeln aus dem Sperrmüll, die in einem offenen Container in der Siedlung gesammelt wurden, hatte sich die Gang im Keller von Justins Mutter eine Bude eingerichtet, die sie für ihre Treffen nutzten. Ein Sofa, zwei Sessel, ein Regal und ein Couchtisch machten den Raum fast bewohnbar. Wenn Justins Mutter mal wieder einen Kerl anschleppte, mit dem ihr Sohn so gar nicht zurechtkam, schlief Justin sogar im Loch. Er achtete jedoch darauf, dass seine Kumpels nichts davon mitbekamen. Dass seine Mutter etwas davon bemerkte, bezweifelte er ohnehin. Sie wusste ja meist nicht einmal, welche Tageszeit es war, geschweige denn, wo ihr Sohn sich aufhielt.
Der Couchtisch war mit leeren Cola- und Bierdosen vollgestellt. Zwei leere Aschenbecher stanken nach kaltem Rauch. Zudem muffelte es nach nassem Köter in diesem Raum, der nur in den Sommermonaten eine angenehme Frische bot und in den Wintermonaten oftmals erbärmlich kalt wurde.
Justin war mal wieder allein, wie so oft in seinem Leben. Er leerte die Aschenbecher in einen Müllbeutel und packte alle Flaschen in eine Plastiktüte. Mit einem Lappen fegte er die Chipskrümel vom Tisch.
»Geht doch.«

***

Gut gelaunt öffnete Omid die Wohnungstür. Seine Mutter guckte mit dem Kopf aus der Küche.
»Da seid ihr ja. Aisha, ich brauche deine Hilfe in der Küche.«
»Aisha? Sie ist noch nicht da?«, fragte Omid.
Die Mutter trat aus der Küche. Mit einer Mischung aus Unglaube und Panik sah sie ihren Sohn an.
»Wo hast du sie gelassen?«
»Wir waren unten. Ich wollte nur noch schnell ein paar Kaugummis kaufen.«
»Kaugummis?«, kreischte seine Mutter. »Dein Vater kommt jeden Moment nach Hause. Was wird er wohl sagen, wenn seine Tochter nicht zu Hause ist, weil sein Sohn Kaugummis kaufen musste?«
Omid hatte bereits die Nummer von Aishas Handy gewählt und wartete darauf, dass sich seine Schwester meldete.
»Omid?«
»Wo steckst du?«
»Ich bin bei Melanie. Sie hat ein Buch, das ich für die Schule brauche.«
Mit dem Handy am Ohr verließ Omid die Wohnung.
»Du sagst mir jetzt genau, wo Melanie wohnt, und ich hole dich da ab!«

***

Justin saß auf der Couch. Sein Blick irrte durch das Loch, auf der Suche nach etwas, womit er die Zeit totschlagen konnte. Dieses Warten. Immer wartete er dort. Meistens kamen Milan und Rico zusammen ins Loch. Sie waren ein unzertrennliches Duo. So wie er und Dave es früher einmal gewesen waren.
Beide wuchsen im selben Haus auf. Trotz einer unendlichen Anzahl Mietparteien und einer unüberschaubaren Menge an Kindern, fanden die beiden Jungen schnell den Kontakt zueinander. Nicht weil die Eltern wollten, dass ihre Kinder Zeit miteinander verbrachten, beide Teenager hatten Eltern, die sich nicht durch eine besonders fürsorgliche Erziehung hervortaten, sondern weil die Jungen das Leid des anderen erkannten. Sie verband ein ähnliches Schicksal.
Obwohl Dave ein paar Monate älter war und ein Jahr vor Justin eingeschult wurde, verbrachten sie nachmittags jede freie Minute zusammen. Dave passte auf den jüngeren Justin auf, wenn es sein musste, und Justin tröstete seinen Freund immer dann, wenn es wieder einmal besonders schlimm bei ihm zu Hause herging. Sie waren damals die besten Freunde. Mehr noch. Sie waren so etwas wie Brüder gewesen.
Als die anderen dazustießen, änderte sich auf einmal alles. Fortan waren sie eine Gang. Man hing zusammen ab, trank Bier, ging Leute aufmischen, prügelte sich mit anderen Gangs, und manchmal zog man auch ein Ding gemeinsam durch. Das machte Spaß, aber es war nicht mehr dasselbe wie zu der Zeit, als Justin und Dave sich noch zu zweit durch die Unwegsamkeiten des Lebens geschlagen hatten.
Nachdem Justins ältester Freund von der Schule geflogen war, lebten sie sich noch mehr auseinander. Dave hatte plötzlich neue Freunde, mit denen er abhing, mit denen er Bier trank, Leute aufmischte und Dinger durchzog. Dave verbrachte kaum noch Zeit mit den Black Amigos. Justins Freund hatte sich verändert. In seinen Augen war Dave erwachsener geworden. Reifer. Und hatte einen Weg aus dem ganzen Scheiß gefunden.
Justin dachte an das Bündel Geldscheine, das ihm sein alter Sandkastenkamerad am Nachmittag gezeigt hatte. Sein Kumpel hatte es geschafft. Zweitausend Tacken. Das war schon was.
Justin dachte darüber nach, was man mit so viel Geld anstellen könnte. Er würde nach Malle fliegen. Die Schule könnte ihn dann auch mal. Wozu einen Abschluss machen? Ich bekomm ja sowieso keine Lehrstelle, dachte Justin. Sein Augenlid zuckte.
Wozu auch? Sich abrackern für acht Euro die Stunde, damit sich andere dicke Autos und hübsche Frauen leisten konnten? Er wollte nicht sein Leben lang malochen und dann mit etwas mehr Geld nach Hause kommen als mit Hartz 4. Da wäre er ja schön blöd!
»Ich hol mir die Kohle vom Amt und mach nebenbei noch ein paar Euro«, dachte Justin laut.
Dave hatte von Zigaretten gesprochen, die man überall zu Geld machen konnte. Er dachte an den Kiosk. Die hatten genug Zaster. Warum auch nicht? Die sind bestimmt versichert, wie alle Geschäfte, bei denen Justin sich bediente. Und wenn nicht? Dann waren sie selbst schuld.
»Warum eigentlich nicht?«, dachte er wieder laut.

***

Die Türklingel schellte. Omid wartete nur kurz, ehe Melanie die Tür öffnete. Sie war wieder einmal geschminkt wie eine erwachsene Frau mit eher zweifelhaftem Ruf. Omid mochte Mädchen wie sie nicht. Er verstand nicht, was seine Schwester an dieser Melanie fand.
»Aisha, dein Bruder ist da.« Zu Omid gewandt sagte sie: »Komm doch rein.«
»Danke, ich warte lieber hier. Wir haben es eilig.«
Aisha trat mit einem Buch in der Hand in den Flur.
»Das brauche ich für Englisch«, sagte sie mit dem Anschein eines schlechten Gewissens in der Stimme.
Ihr Bruder trat zur Seite, um Aisha den Weg aus der Wohnung frei zu machen.
»Bis morgen dann«, verabschiedete sich Melanie.
»Bis morgen.«
Aisha huschte zum Fahrstuhl.
»Ist Vater schon da?«, frage sie Omid.
»Eben war er es noch nicht«, antwortete er.
Dass seine Schwester in diesem Augenblick deutsch mit ihm sprach, deutete er als Versöhnungsversuch.
Ihre Mutter ließ Aisha nachmittags zu ihren Freundinnen gehen, wenn Omid auch unterwegs war und mit seinen Kumpels abhing. Der Vater wusste davon. Auch wenn er nicht begeistert war, stimmte er seiner Frau doch zu, die der Meinung war, dass man in einem fremden Land Freunde brauchte. Gerade Aisha, die sich sehr schwer damit getan hatte, sich in ihrer neuen Heimat einzugewöhnen, sollte sich mit deutschen Mädchen treffen, um die Sprache zu erlernen. Und auch, um ein wenig ihr Heimweh zu überwinden.
Melanie wäre mit Sicherheit nicht die erste Wahl gewesen, wenn ihre Eltern ihr eine Freundin hätten aussuchen können. Aber nachdem sich die Tochter jahrelang alleine durch die Schule geschlagen hatte, waren beide froh gewesen, als Aisha endlich begonnen hatte, von einer Freundin zu erzählen.
»Hast du morgen überhaupt Englisch?«, fragte Omid.
Aisha schwieg.
Sie gingen durch die Dämmerung von Melanies Hochhaus zu ihrem hinüber, das nur ein paar Häuserreihen entfernt lag. Aisha drückte den Fahrstuhlknopf.
»Ich habe die Zeit vergessen. Ich wollte wirklich nur kurz bleiben, aber dann hat mir Mel eine neue CD vorgespielt. Die war echt cool.«
Die Fahrstuhltür öffnete sich.
»Ich werde nicht für dich lügen!«, sagte Omid, während er die Wohnungstür aufschloss.
Sie hängten gerade ihre Jacken an die Garderobe, als ihr Vater aus dem Wohnzimmer trat. Er hatte seine Tageszeitung in der Hand, die ein wenig zerknüllt wirkte, als ob er sie nicht gelesen, sondern stattdessen gerollt und dann mit beiden Händen festgehalten hätte.
Die Mutter streckte nur kurz ihren Kopf aus der Küche, verschwand aber sofort wieder, ohne ein Wort zu sagen.
»Wo kommt ihr jetzt her?«, fragte der Vater. Seine Stimme rollte dröhnend wie ein Überschallflieger den Flur entlang auf die Geschwister zu.

***

Rasch überflog er das Kaugummisortiment des Kiosks. Seine Sorte lag wie immer weit oben. Er griff zu der minzgrünen Packung und reichte sie Sophie über den Tresen.
»So spät noch da?«, fragte er.
Sie sah nach oben und lächelte ihren Kunden an, so wie sie es immer tat.
»Hallo Dennis. Ja, nur heute. Mein Vater hat einen Termin. Er müsste aber jeden Moment wieder hier sein.«
Sophie sah die Kaugummipackung.
»Achtzig Cent.«
Dennis legte das Kleingeld auf den Tresen.
»Und, wie geht es dir?«, fragte Sophie.
»Toll«, antwortete Dennis. »Ich bekomme heute mein neues Smartphone. Das Ding hat alles: Den neuesten Prozessor, ein hochauflösendes Display, unkaputtbar. Die Fotos und Videos nimmt es in HD auf. Die Kamera hat überhaupt die meisten Megapixel. Dann noch einen riesigen Speicher, GPS. Es ist wasserdicht. Ich könnte damit sogar schwimmen. Das Ding ist der Wahnsinn.«
Sophie nickte ein wenig irritiert.
»Ich freue mich halt drauf«, erklärte Dennis, der sich erst in diesem Moment an den Vorfall in der Schule zu erinnern schien, seine Begeisterung.
»Ansonsten geht es so.«
»Du solltest Justin anzeigen. Der darf nicht immer mit so etwas durchkommen.«
Dennis wich ein Stück zurück. Energisch schüttelte er den Kopf. »Nein, Justin ist gar nicht so. Nur manchmal. Wenn ich ihn anzeige, fliegt er von der Schule. Und mich …« Er schwieg, als er sich die Konsequenzen für sich vorstellte.
»Das geht schon«, wiegelte er ab.
»Da bin ich, mein Schatz«, sagte Sophies Vater, der durch die Ladentür eilte. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist, aber beim Steuerberater war wieder einmal die Hölle los. Ständig hat bei ihm das Telefon geklingelt. Hab ja auch selber Schuld. Immer erledige ich diesen Steuerkram auf den letzten Drücker.«
Er trat hinter den Tresen und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Wange. Ohne Dennis zu beachten, der mit seiner Kaugummipackung immer noch vor dem Tresen wartete, fragte der Vater: »Und? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«
Eine Routinefrage, die er jeden Nachmittag stellte, bevor er seine Tochter ablöste.
Sophie verneinte. Sie schnappte ihre Tasche.
»Bis später, Dad«, dabei drückte sie ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Und mach nicht so lang«, ermahnte sie ihn.
»Bis morgen«, verabschiedete sie sich von Dennis, der immer noch mit dem Kaugummi in der Hand vor dem Tresen stand.

***

»Sie hatte ein Buch vergessen«, erklärte Omid seinem Vater ihr verspätetes Erscheinen.
»Für die Schule?«
»Englischunterricht. Die Aufgaben für morgen«, sagte Aisha, die aus den Augenwinkeln heraus ihren Bruder ansah.
»Wir waren nur kurz bei Melanie. Gleich um die Ecke«, sagte der Sohn weiter.
Der Vater nickte, während er seinen Kindern zuhörte, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Er sah von seinem Sohn zu seiner Tochter, als ob er ihre Lüge erahnte und sie auf frischer Tat ertappen wollte. Er schwieg einige Sekunden, bis er zu Aisha sagte.
»Ich glaube, deine Mutter braucht dich in der Küche.«
Aisha huschte am Vater vorbei zu ihrer Mutter, die sie mit einem stechenden Blick mahnte. Omid stand immer noch wie angewurzelt im Flur. Er wartete auf das Zeichen, dass sein Vater mit der Erklärung zufrieden war.
»Hast du noch Hausaufgaben zu machen?«
Der Sohn nickte.
»Dann los!«
Der Vater ging ins Wohnzimmer zurück. Omid starrte ins Leere. Nur langsam fiel die Anspannung von ihm ab.

***

Er sah in den Spiegel. Das tat er häufig. Er war kein auffälliger Junge. Nicht besonders groß für sein Alter. Die Jugendakne hatte sich erst spät bei ihm bemerkbar gemacht, zeichnete dafür aber jetzt sein Gesicht. Zwischen den Pickeln hatte er ein paar Sommersprossen, die ihn nicht weiter störten. Er war nicht hässlich, allerdings auch nicht hübsch. Einfach Durchschnitt. Er war eben der blasse Typ. Klar, dass die meisten Menschen ihn übersahen. Er war der unscheinbare Dennis.
Dass ausgerechnet Sophie sich heute für ihn eingesetzt hatte, war so etwas wie ein Wunder. Sophie war das genaue Gegenteil von ihm. Sie war hübsch, sie war beliebt, jeder in der Schule kannte sie. Natürlich auch, weil ihr Vater den besten Kiosk in der Gegend besaß. Aber das war es nicht, warum alle Sophie mochten. Sie war einfach Sophie, der herzensgute, mitfühlende, lustige, intelligente Mensch, den man einfach mögen musste.
Dennis blickte wieder in den Spiegel. Sie hat dich heute vor Justin in Schutz genommen, dachte er. Dabei wurden seine Gesichtszüge weicher. Sophie hatte sich um Dennis gekümmert. Und nicht allein das. Sie hatte ihn heute Abend auch noch gefragt, wie es ihm ginge. Unweigerlich musste er bei diesem Gedanken lächeln.
Es klopfte.
»Dein Vater ist jetzt da«, hörte er seine Mutter durch die geschlossene Tür sagen. »Kommst du? Wir wollen essen.«
»Komme gleich«, antwortete Dennis, der immer noch sein lächelndes Spiegelbild betrachtete.

***

Nach dem Abendessen verabschiedete sich Omid von seinen Eltern, während Aisha gerade den Tisch abräumte.
»Ich bin spätestens um einundzwanzig Uhr wieder da«, sagte er zum Vater auf Dari.
Mit seinem Vater sprach Omid immer in Dari. Sein Vater wollte zwar, dass seine Kinder gut deutsch sprachen, aber sie sollten ihre Wurzeln auch nicht vergessen. Und da er seinem Sohn kein Deutsch beibringen konnte, musste sich der Vater wenigstens um die Muttersprache seiner Kinder bemühen.
»Zwanzig Uhr dreizig«, sagte der Vater. »Morgen ist Schule.«
Omid wusste, dass Verhandlungen zwecklos waren. Er musste sich also beeilen, wenn er noch Zeit mit seinen Freunden verbringen wollte. Es war schon kurz nach sieben.

***

Dennis‘ Mutter räumte gerade den Tisch ab, als der Vater mit einem Karton unter dem Arm in die Küche zurückkehrte. Dennis hibbelte auf seinem Stuhl und rieb sich die Hände.
»Hier hast du dein Luxus-Handy. Nicht mal dein Vater hat so ein tolles Gerät.«
Das Geld hatte Dennis schon vor dem Abendbrot seinem Vater überreicht. Abgezählt, mit vielen kleinen Scheinen und einer Handvoll Münzgeld, die er über die vergangenen Monate gespart hatte, hatte Dennis das Geld in den Umschlag zu seinem Lohn gelegt und dann zugeklebt. Nun endlich bekam Dennis sein Handy. So lange hatte er darauf gewartet.
Er öffnete die Kiste. Als ob mit dem Lüften des Deckels auch die Vorfreude verpuffte, verschwand ein Stück des Glücks, das Dennis in den Wochen der Vorfreude begleitet hatte.
Jetzt war sein Traum Realität geworden.
Sachte nahm er das schwarz glänzende Gerät in beide Hände, streichelte sanft über das Display und drückte dann den Knopf zum Einschalten.
»Willst du nicht erst einmal die Gebrauchsanweisung lesen?«, fragte die Mutter.
»Männer brauchen nicht zu lesen. Wir verstehen das auch so«, antwortete der Sohn. Der Vater musste schmunzeln.
»Ich geh in mein Zimmer«, sagte Dennis zu seinen Eltern. Er hatte jetzt, was er wollte. Seine Eltern störten nur beim Erkunden des Geräts.
»Aber pass auf, dass du das Handy nicht verlierst, so wie den teuren MP3-Player, den wir dir zum Geburtstag geschenkt haben«, rief der Vater seinem Sohn hinterher, der ihn nicht mehr hörte, da die Tür bereits hinter ihm ins Schloss gefallen war.

***

Alle waren schon da. Wie so oft kam Omid als Letzter zum Treffen. Dave war an diesem Abend auch mit dabei. Er erzählte gerade von seinem dicken Ding, dass er mit den echten Profis durchgezogen hatte. Dafür, dass Dave eigentlich die Fresse halten wollte, prahlte er ganz schön mit dem Diebstahl.
»Was geht ab?«, begrüßte Omid die Runde.
»Dave hat uns gerade von seinem Ding mit den Notebooks erzählt«, erklärte Milan, der wie immer ein wenig langsamer dachte als seine Freunde.
»Das habe ich schon mitgekriegt.« Omid sah Justin an, der über Milans Kopf hinweg die Augen verdrehte.
»Omid steht da schon ewig, Digger.«
Mit lang gestrecktem Arm schlug Justin Milan auf den Hinterkopf, als könne er so die Denkprozesse bei seinem Freund beschleunigen.
»Ich weiß doch«, sagte Milan und rieb sich dabei den Hinterkopf. »Musst du da immer gleich draufhauen?«
Justin grinste. Dann schenkte er Omid seine Aufmerksamkeit. »Und, ist deine Schwester gut zur Schule gekommen?«
»Hör auf, Justin«, fuhr Dave dazwischen. »Lass die Jungs doch einfach in Ruhe mit deinem Scheiß.«
»Was für’n Scheiß, Digger?«, zischte Justin.
»Du bist doch nur genervt, weil ich hier dick Kohle in der Tasche hab und du nicht.« Dabei fingerte Dave in seiner Jackentasche und zog das Bündel Geldscheine hervor. Milan starrte auf die Fünfziger.
»Wow«, sagte Erkan, der wie alle anderen Anwesenden in seinem Leben noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen hatte.
»So was könnt ihr auch haben. Ihr braucht nur ein Ziel, einen Plan und den Mut, diesen Plan auch umzusetzen«, sagte Dave, während er das Geldbündel wieder wegpackte.
»Der Kiosk«, warf Justin ein. »Du hast gesagt, dass im Kiosk Geld zu holen ist. Und dass man die Zigaretten gut verticken kann.«
»Und natürlich auch den Alkohol«, erklärte Dave. »Ihr müsst alles mitnehmen, was man irgendwie verscherbeln kann. Und vergesst nicht, große Taschen mitzunehmen.«
»Der Kiosk am Platz ist immer voll mit allem. Die haben ein großes Lager. Da können wir richtig abräumen«, sagte Justin, der mittlerweile aufgesprungen war und wie ein Tiger im Käfig durch den Raum auf und ab lief.
»Der Kiosk am Platz?«, fragte Omid. »Das ist doch bescheuert.«
Justin blieb abrupt stehen und sah Omid an. »Wieso ist das bescheuert? Das ist genial! Oder willst du die geklaute Beute quer durch die Stadt schleppen. Wir haben kein Auto oder so. Wir nehmen den Kiosk am Platz«, sagte Justin, als wäre die Sache damit geklärt.
Omid dachte nach. Justin sprach von Sophies Kiosk. Sein Magen zog sich zusammen. Er durfte auf gar keinen Fall zulassen, dass seine Gang Sophies Familie Schaden zufügte.
»Die kommen euch sofort auf die Spur, wenn ihr einen Einbruch in unserem Revier durchzieht. Als Erstes werden sie wahrscheinlich die Kellerräume durchsuchen. Und dann finden sie hier alles. Willst du das?«
Omid war überrascht über die spontane Eingebung, die die Lösung seines Problems zu sein schien.
»Da könnte Omid recht haben«, sagte Dave, nachdem mehrere Sekunden verstrichen waren. Die Jungs überlegten. Justin setzte sich zurück auf das Sofa, und auch Omid nahm auf einem der Sessel Platz.
»Der Kiosk am Bahnhof. Der sollte doch weit genug entfernt sein?«, fragte Erkan in Richtung Omid. Sein Freund nickte. »Ich denke schon. Und ihr müsst eure Beute dann auch nicht quer durch die Stadt schleppen!«, sagte Omid, den Blick auf Justin gerichtet.

***

Dennis hatte sich schon diverse Apps auf das Smartphone geladen. Das Gerät war fantastisch. Es gab nichts, was man mit diesem Teil nicht konnte. Dank des riesigen Speichers lud er sich unzählige Filme, Musik und Spiele runter. Und da er die richtigen Seiten im Netz kannte, kostete es ihn nicht einmal einen Cent.
So ein Handy hatte keiner in der Schule, das wusste Dennis. Es hätte sich sonst rumgesprochen. Er war der Erste, der mit diesem Teil unter seinen Mitschülern punkten konnte.
Bereits bei seinem MP3-Player war er der Erste gewesen, der dieses Luxusteil besessen hatte. Aber Justin hatte ihm dieses Spielzeug abgenommen. Natürlich hatte Dennis seinen Player nicht zurückbekommen, auch nicht, nachdem er den Vorfall bei Frau Schnitzler gemeldet hatte.
Keiner seiner Mitschüler hatte Dennis dabei geholfen und gegen Justin ausgesagt. Damit hatte sein Wort gegen das von Justin gestanden. Und da Justin das Teil nicht mehr gehabt hatte, musste die Schule die Sache auf sich beruhen lassen.
Statt seines MP3-Players hatte Dennis damals wieder einmal Schläge von Justin erhalten. Weil er ihn verpfiffen hätte, hatte Justin damals gesagt, als Dennis schon lange am Boden lag und aus der Nase blutete.
Das passiert mir dieses Mal nicht, schwor sich Dennis. Mein Handy bekommt ihr nicht!

***

Sophie kam erst nach neunzehn Uhr in die Wohnung. Ihr Bruder hatte sich schon Abendbrot gemacht und saß mit seinen Wurstschnitten vor dem Fernseher, in dem gerade seine Lieblingssoap lief.
»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«, fragte Sophie ihren Bruder. Ohne sie anzusehen, antwortete er: »Ja, hab ich.«
Sophie ging in die Küche. Sie ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Jonas hatte den Tisch für sie und ihren Vater mitgedeckt. Die Wurst und der Käse lagen schön angerichtet auf einem großen Teller, und über das Brot hatte er ein sauberes Geschirrtuch gelegt, damit es nicht austrocknete.
Es war schon eigenartig. Früher hatten sie immer gemeinsam Abendbrot gegessen. Früher, als ihre Mutter noch lebte. Das war Jahre her. Sophie versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie nach dem Tod ihrer Mutter noch einmal mit ihrem Bruder und Vater zusammen zu Abend gegessen hatte. Es wollte ihr nicht einfallen. Sie aßen oft in Schichten. Meist versuchte Sophie, gemeinsam mit ihrem Bruder am Abendbrottisch zu sitzen, um für ihn ein Familienleben aufrechtzuerhalten, so gut es unter diesen Umständen eben ging. Sophie sehnte sich nach der Zeit zurück, als sie noch die kleine Sophie gewesen war, die sich um nichts sorgen musste, sondern einfach nur Tochter war.
Sie machte sich ein Brot mit Teewurst und legte auf eine zweite Scheibe ein Stück Gouda. Dann nahm sie den Teller und setzte sich zu ihrem Bruder ins Wohnzimmer, um sich gemeinsam mit ihm seine Lieblingssoap anzuschauen.


 

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