Leseprobe: „Jeder mag Äpfel“


November 2007:

Die Ruhe vor dem Sturm

„Es ist arschkalt“, flüsterte ich Mona zu, kurz nachdem eine Reisegesellschaft an uns vorbeigeschlendert war. Keiner von denen hatte uns eines Blickes gewürdigt, geschweige denn ein Foto gemacht. „Niemanden interessiert, dass wir hier rumstehen“, nörgelte ich weiter. Aber Mona rührte sich nicht. Vielleicht war sie schon erfroren. „Nur Verrückte arbeiten jetzt noch draußen“, versuchte ich es noch einmal, woraufhin sie endlich reagierte. Es war zwar nicht die Reaktion, die ich erhofft hatte, aber immerhin lebte sie noch.

„Ruhig! Da vorne. Eine Mutter mit zwei Kindern“, zischte meine Freundin mit zusammengepressten Lippen. Widerwillig folgte ich ihrer Anweisung und verhielt mich still. Mein Körper reagierte sowieso nicht mehr wie gewohnt. Ich konnte meine Nase kaum noch spüren, die Durchblutung meiner Ohren lief auf Hochtouren und der Apfel in meiner Hand zitterte, als wäre er der Hauptakteur in Schillers berühmter Wilhelm‑Tell‑Szene. Dabei war dies nur ein ganz gewöhnlicher Montagmorgen im November, den wir in einer kleinen Gasse nahe der Kathedrale Granadas verbrachten, um als lebende Statuen auf den nächsten Geldeinwurf in unserer Box zu warten.

Ich sah zum strahlend blauen Himmel hinauf, der von den Temperaturen des Tages ablenkte. Wenn ich im Sommer auf dieses klare Blau schaute, ging mir das Herz auf. Mir wurde in diesen Momenten bewusst, dass ich vor Jahren die richtige Entscheidung getroffen hatte, als ich mit meiner besten Freundin Mona nach Spanien ausgewandert war. Damals hatten wir einen Imbissanhänger und ein altes Wohnmobil als Start für unsere neue Existenz aus Deutschland mitgenommen. Eigentlich wollten wir nur ein Jahr bleiben und aus dem Anhänger Würstchen an Touristen verkaufen. Mittlerweile waren sieben Jahre verstrichen und unsere Träume von einem Imbiss an der Mittelmeerküste waren nur noch ein dumpfer Nachhall aus der Vergangenheit.

Stattdessen traten wir nun als lebende Statuen auf und verdienten in historischen Kostümen und silbern geschminkt unseren Lebenunterhalt. Ursprünglich war dieser Job nur als Übergangslösung gedacht gewesen. Mittlerweile schätzten wir jedoch die Freiheit, die uns das Künstlerleben bescherte, so sehr, dass die Möglichkeit, irgendwann einmal in unser altes Leben zurückzukehren, unvorstellbar erschien.

Ich sah zur Seite auf meine Freundin Mona, die in dem Kostüm einer englischen Blumenverkäuferin der Belle Époque neben mir ausharrte. Neben ihrer filigranen Rüschenbluse und der wallenden Perücke wirkte mein Kostüm der Apfelfrau mit Kopftuch und einer Strickjacke eher wie eine russische Bauersfrau aus einer drittklassigen Anatevka‑Inszenierung. Dass meine Petruschka, wie ich mein Kostüm hin und wieder liebevoll nannte, neben der Blumenfrau meistens gar nicht wahrgenommen wurde, war an diesem Tag jedoch nicht mein größtes Problem.

„Es ist arschkalt!“, wiederholte ich fast lautlos meine Worte. Monas vorwurfsvoller Blick verriet, dass sie mich gehört hatte. Vermutlich hatte sie mich auch schon beim allerersten Mal gehört.

Ich versuchte, das Zittern meiner Hand zu verringern, was allerdings nicht so einfach war. Mein Körper fühlte sich wie eine eingefrorene Rinderhälfte an. Er tat, was er wollte: nichts. Na ja, fast nichts. Er zitterte eben.

Die Mutter mit den beiden Kindern kam näher. Ihren Blick hatte sie geradeaus auf den Weg vor sich gerichtet. Ich vermutete, dass die Frau in Gedanken ihren Tag organisierte, eine Einkaufsliste erstellte oder Ähnliches plante. An beiden Händen und mit festem Griff zog sie zwei Jungen hinter sich her. Der Kleinere der beiden sah uns interessiert an. Ein guter Ausgangspunkt für eine geschäftliche Beziehung mit dieser Familie. Für gewöhnlich konnte man Mütter, die es eilig hatten, nur schwer stoppen. Manchmal half allerdings ein Griff in die Trickkiste.

Unter Anstrengung überredete ich mein eingefrorenes Augenlid, dem Kind zuzuzwinkern. Es knirschte ein wenig, wahrscheinlich löste sich ein kleiner Eiszapfen von meiner Wimper, aber dann stellte ich mit großer Freude fest, dass mein Plan aufging: Der Junge lächelte mich herzlich an. Damit hatte ich die Aufmerksamkeit des kleinen Knirpses sicher. Was folgte, war Kinderpsychologie für Anfänger: Wenn sich Kinder für etwas interessieren, reduzieren sie automatisch ihr Tempo beim Gehen. Da die Mutter an der Hand ihres Sprosses hing, verringerte sie gezwungenermaßen ebenfalls ihre Geschwindigkeit.

Das Gespann kam zum Stehen. Damit waren wir im Spiel. Was nun geschehen würde, lag jedoch außerhalb meiner Kontrolle. Es konnte eine Münze für uns herausspringen oder ein Familien­drama. Die Chancen standen bei diesen Temperaturen leider günstiger für das Familiendrama.

Aus den Augenwinkeln heraus versuchte ich, die Familie zu beobachten. Der kleine Junge löste seine Hand und zeigte damit auf unsere Statue. Die Mutter schüttelte den Kopf. Aber der Kleine gab nicht auf. Er wusste seine Geheimwaffe, die jedes Kind besitzt, gut einzusetzen. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, sein Arm streckte sich immer weiter und seinen Tonfall verlegte er um zwei Oktaven nach oben. Viele Kinder machen genau das, kurz bevor sie zu weinen anfangen. Dennoch schüttelte die Mutter energisch ihren Kopf. Das war in jeder Sprache unmissverständlich. Nun gut, dann eben nicht, dachte ich mir, als ich mit einem letzten Blick auf die Szene eine Träne im Auge des Jungen entdeckte. Das hatte ich nicht gewollt.

Es war ein stinknormaler Wochentag im November. Niemand außer uns und der verrückten russischen Combo arbeitete im November auch unterhalb der Woche. Die meisten Kollegen traten nur noch an den Wochenenden auf, wenn mehr Touristen durch die schmalen Gassen der historischen Altstadt Granadas flanierten.

Vor ein paar Jahren hatte unser Leben als Straßenkünstlerinnen noch ganz anders ausgesehen. Damals hatten wir unseren Lebenunterhalt hauptsächlich mit den Spaniern selbst verdient, die uns Künstler als Teil einer Tradition sahen und unsere Auftritte mit der ein oder anderen Münze großzügig honorierten. Mittlerweile sah unsere Lage anders aus. Im Winter verdienten wir unser Geld überwiegend mit Touristen. Grund dafür, dass die Spanier nicht mehr so viel Geld in unsere Büchse warfen, war die Immobilienkrise und die damit verbundene Wirtschaftskrise des Landes. Immer mehr Spanier verloren ihre Jobs, konnten ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen und wurden aus ihren Häusern geschmissen. Wer noch ein wenig Geld auf dem Konto hatte, ging damit sparsam um. Niemand wusste, was der morgige Tag brachte, ob er seinen Job behielt oder ein Familienmitglied demnächst Unterstützung brauchte. Das einzige, worauf man sich verlassen konnte, war, dass das Sozialsystem Spaniens so löchrig war wie ein schweizer Käse.

So kam es also, dass wir unser Geld inzwischen hauptsächlich mit den Touristen verdienten. Wir hofften, dass unsere Einnahmen zur Weihnachtssaison wieder ansteigen würden. Darauf hatten wir uns in den vergangenen Jahren trotz der sich ankündigenden Krise immer verlassen können. Die Weihnachts­saison hatte jedoch noch nicht begonnen.

Ich war kurz davor, vom Podest zu steigen, um dem kleinen Jungen eine Münze aus unserem Topf zu geben. Niemand sollte weinen müssen, weil ich mit einem Äuglein gezwinkert hatte. Aber meine Freundin sah mich von der Seite durchdringend an. Ein Blick, den ich kannte und der mir signalisierte, mich auf gar keinen Fall zu bewegen, geschweige denn vom Podest zu steigen. Es war unheimlich, wie gut Mona meine Gedanken lesen konnte.

Sekunden verstrichen. Dann erbarmte sich die Mutter. Ob sie ihrem Sohn die Münze reichte, damit er endlich Ruhe gab oder ob sie einfach nur Mitleid mit uns hatte, weil ich mein Zittern nicht länger unterdrücken konnte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall kam der Junge strahlend auf uns zu, schmiss seine Münze in unsere Dose und blickte aufgeregt nach oben. Wir begannen mit unserer Drehung und ich zwinkerte ihm noch einmal zu. Als er den funkelnden Glückskleeaufkleber erhielt, den wir als kleines Dankeschön für jede Münze herausgaben, strahlte der Knirps über das ganze Gesicht. Voller Stolz präsentierte er den funkelnden Aufkleber seinem Bruder, der ihm den Glücksklee abnahm, um ihn besser begutachten zu können. Es gab eine kleine geschwisterliche Rangelei, die die Mutter beendete. Sie nahm den Kleinen wieder an die Hand und ging weiter. Der große Junge sah zu uns herüber. Es dauerte einige Sekunden, dann lief er seiner Familie hinterer.

„Warum hast du dem Großen nicht auch einen Aufkleber geschenkt?“, fragte ich Mona, die in so einer Situation das Geschwisterkind manchmal ebenfalls zu sich heranwinkte.

„Das waren zehn Cent!“, sagte meine Freundin ohne weitere Erklärungen. Dann stieg sie vom Podest und sagte: „Feierabend.“

„Endlich!“, entfuhr es mir. Ich erhielt dafür einen mahnenden Blick.

„Ich weiß, ich weiß. Von nichts kommt nichts“, sagte ich schnell, um Monas Laune zu besänftigen, und fuhr fort: „Kleinvieh macht auch Mist. Viel Klein macht ein Groß und so weiter.“

„Das stimmt doch auch!“, schnauzte sie mich an.

Ich war offensichtlich nicht die Einzige, die von diesen Temperaturen gereizt war.

„Kaffee bei Pans?“, fragte ich und bemühte mich dabei um einen freundlichen Tonfall.

Meine Freundin nickte.

Während wir unsere Sachen im Rekordtempo einpackten, schlich sich ein älterer Mann an. Er stellte sich hinter Mona und wartete. Dieses Anschleichen war fast normal für Andrés, einen Freund von uns, den wir vor ein paar Jahren hier in Granada kennengelernt hatten. Damals war er nach einem unserer Auftritte auf uns zugekommen und hatte uns für unsere tolle Performance gelobt. „Un trabajo de paz y amor“, waren seine Worte gewesen, „Eine Arbeit voll Frieden und Liebe.“

Im Laufe der Jahre erfuhren wir einiges über Andrés, der ungefähr an die siebzig Jahre alt sein durfte. Er lebte in einem PKW, der meistens in Granada stand, aber er bereiste auch andere Städte Andalusiens. Andrés arbeitete nur dann als Performancekünstler, wenn er Geld brauchte, ansonsten schrieb er Gedichte über die Vollkommenheit der Natur und verschenkte diese Werke an Menschen, die er mochte. Über uns hatte er auch mal ein Gedicht geschrieben, dessen ganze Schönheit mir erst im Laufe der Jahre bewusst wurde, als die spanische Sprache nicht mehr nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Teil von mir geworden war.

Der Mann mit dem grauen Bart hatte viel in seinem Leben erlebt. Er hatte uns von den Gründerzeiten der ökologischen Partei Spaniens erzählt, bei der er mitgemischt hatte. Damals, bei einem Treffen mit Vertretern der Grünen aus anderen Ländern, hatte er auch Petra Kelly kennengelernt. Er zeigte uns stolz Bilder aus dieser Zeit, als er noch einen geregelten Job und ein angepasstes Leben geführt hatte. Er war Fotograf bei einer großen Zeitung gewesen. Er hatte fast die ganze Prominenz Spaniens fotografiert und auch von der Königsfamilie jede Menge Bilder machen dürfen. Als er uns den kleinen Stapel Fotografien aus seiner Brieftasche präsentierte, fiel ein Bild mit seiner Familie heraus. Er hatte zwei Töchter, die vermutlich in Monas und meinem Alter waren. Andrés sprach jedoch nicht viel über sein Privatleben. Nur einmal erzählte er davon, dass ihm in den Moment, als sein Haus abbezahlt war und seine Kinder die Schule beendet hatten, klar geworden war, dass er ein neues Leben beginnen musste. Daraufhin hatte er seine Familie verlassen. Er hatte nur einen Koffer und seinen Wagen mitgenommen. Den Rest ließ er zurück.

Andrés war ein besonderer Typ. Je nach Tagesform pendelte sein Auftreten zwischen Philosoph, Einsiedler und Kauz. Was ihn allerdings stets begleitete, war seine unerschütterliche innere Ruhe. Mona meinte, dass das irgendwie Zen war, oder so. Mir war das egal.

Ich lächelte ihn an. Ich konnte gar nicht anders. Das hatte wiederum etwas mit seiner Aura zu tun – wie Mona erklärt hatte. Er strahlte so viel positive Energie aus, dass die Leute sich in seiner Gegenwart einfach wohlfühlten. Aura hin oder her, Andrés war einfach ein netter Kerl.

Mona folgte meinem Blick.

„Hey, kommst du mit, einen Kaffee trinken?“, fragte sie Andrés, ohne ihn vorher begrüßt zu haben. Dafür drückte sie ihn einmal kräftig an sich.

„Nein, danke“, antwortete er. „Ich mache gerade einen Spaziergang. Ich muss nachdenken und will dabei meine müden Knochen ein wenig aufwärmen.“

„Genau deswegen gehen wir jetzt einen heißen Kaffee trinken“, sagte Mona, die ihre letzten Sachen in die Kiste geworfen hatte. „Wir wollen auch unsere müden Knochen wieder aufwärmen. Ich bin total durchgefroren.“

Mein Kopfnicken signalisierte uneingeschränkte Zustimmung.

Schweigend sah mich unser Freund an. Obwohl er es nicht aussprach, hatte ich das Gefühl, dass er mich fragte, warum wir bei der Kälte überhaupt arbeiteten. Wie Mona diese telepathischen Fähigkeiten von mir wohl erklären würde? Mit Zen und diesem Kram hatten meine Aura und ich ja nun wirklich nichts am Hut.

Mona hingegen war seit jeher esoterisch angehaucht. Sie praktizierte jeden Tag des Jahres den Sonnengruß sowie andere Yogaübungen und träumte heimlich davon, irgendwann in Spanien eine Finca zu erwerben, um ein Yoga- und Meditations­zentrum zu eröffnen. Bei unserer derzeitigen finanziellen Situation sah es so aus, als würde ihr Traum auch ein Traum bleiben.

Dass Andrés nicht verstand, warum wir bei diesen Temperaturen arbeiteten, konnte ich sehr gut nachvollziehen. Jeder vernünftig denkende Straßenkünstler würde sich diese Frage stellen. Andrés gehörte offensichtlich zu den Vernünftigeren unserer Zunft.

Nun sah er zu Mona rüber, die unseren Verdienst aus der Dose in ihre Handfläche geschüttet hatte. Sie überflog die Einnahmen und ließ sie dann in ihrer Hosentasche verschwinden.

„Den Kaffee haben wir uns wenigstens verdient“, sagte meine Freundin strahlend zu mir.

„Nur den Kaffee?“

„Ein bisschen mehr ist es schon“, sagte Mona, ging aber nicht weiter darauf ein.

In diesem Moment fragte ich mich, ob ich mit dem Kaffeetrinken nicht doch lieber aufhören sollte. Wenn ich zwei Stunden für einen Becher meines Lieblingsgetränks in der Kälte rumstehen musste, war das die Mühe nicht wert.

„Bist du am Wochenende draußen?“, fragte ich Andrés.

„Ich denke schon. Es soll wärmer werden.“

Ich mochte seine Art, wie er die Dinge anging, und die Weise, wie er die Welt betrachtete. Um diesen inneren Frieden beneidete ich ihn. Im Vergleich zu Andrés war ich ein unruhiger Geist. Meine Gedanken arbeiteten unentwegt auf Hochtouren.

„Wir können dich wirklich nicht überreden, mit dem Kaffee, meine ich?“, fragte Mona noch einmal.

„Danke“, sagte er leise, aber dennoch bestimmt. „Ich habe da eine Idee für ein neues Gedicht. Die besten Einfälle habe ich, wenn ich spazieren gehe.“

Er verabschiedete sich und schlenderte weiter in Richtung Albaicín. Gedankenversunken blickte ich ihm hinterher. Mona legte noch die Einwurfdose in ihre Kiste und fragte dann: „Und? Fertig?“

Zwei Sekunden später sah ich sie an.

„Und?“, fragte sie erneut.

„Ja, lass uns einen Kaffee trinken“, antwortete ich.


Kurz darauf stellten wir unsere Kisten vor dem Schnellrestaurant ab. Von unserem Lieblingstisch aus würden wir die Podeste gut im Blick haben. Dann betraten wir die Pans-Filiale.

Das Selbstbedienungsrestaurant am Plaza Bib Rambla hatte uns in den vergangenen Jahren oft vor Unterkühlungen bewahrt. Manchmal wärmten wir uns während der Pausen in den Räumen des Restaurants kurz auf, um anschließend weiterzuarbeiten. Wenn es noch kälter wurde, brachen wir unsere Auftritte auch ab und tauten bei heißem Kaffee auf, den Pans günstig im Angebot hatte.

Von einem Mitarbeiter bekamen wir hin und wieder Gutscheine zugesteckt, bei denen wir zwei Bocadillos, belegte Baguettes, zum Preis von einem bekamen. Und der Schichtleiter mit der kleinen Tochter, die uns besonders ins Herz geschlossen hatte, lud uns manchmal zu einem zweiten Kaffee ein, wenn wir mal wieder länger sitzen blieben, weil es viel zu kalt war, um den Nachmittag im Wohnmobil zu verbringen.

Das Reisen im Camper hatte viele Vorzüge, aber im Winter musste man auch in Spanien schon ein echter Idealist sein, um über die Schwachstellen des mobilen Heims hinwegzusehen. Angefangen bei den dünnen Außenwänden, den dadurch enormen Heizkosten, der Zeit, die das Wasser im Boiler brauchte, ehe man halbwegs warm duschen konnte, bis hin zu ständig kalten Füßen. Unser Alltag war in dieser Jahreszeit kein Zuckerschlecken. Dennoch liebte ich unser Leben, die damit verbundene Freiheit und die Möglichkeit, überall hinzureisen, wohin es uns trieb.

Mona reihte sich in der Schlange vor dem Tresen ein. Vor ihr warteten bereits zwei Kunden. Ich setzte mich an unseren Tisch und überprüfte, ob unsere Kisten immer noch an Ort und Stelle standen. Dann ließ ich meinen Blick über den Platz schweifen, in dessen Mitte ein dreistöckiger, runder Marmorbrunnen stand, auf dessen Spitze Neptun thronte. Das Wasserspiel interessierte mich an diesem Tag jedoch nicht. Stattdessen beobachtete ich die russische Band, die auf der anderen Seite des Brunnens gerade abbaute. Sie schütteten das Geld aus ihrer Büchse in einen kleinen Beutel. Wenn ich ihre Gesichter richtig interpretierte, war ihr Vormittag ebenso erfolglos verlaufen wie unserer.

„Andrés ist schon ein Typ, was?“, sagte Mona, während sie sich setzte. „Hat immer irgendwas im Kopf.“

„Ja, so sind wir Schriftsteller eben.“

Mona sah mich an. Ich reagierte nicht auf ihren Blick. Über das Schreiben zu reden, genauer gesagt über meine Leidenschaft für das Schreiben, führte unweigerlich zum Streit.

„Hast du wieder Gutscheine gekriegt?“, fragte ich stattdessen.

„Nein, heute war ein neuer Mitarbeiter an der Kasse. Was meinst du damit, so sind wir Schriftsteller eben?“

„Komm, hör auf, das gibt nur Ärger“, sagte ich, doch in meinem Kopf arbeitete es weiter.

„Andrés ist ein kreativer Kopf. Der braucht Zeit, um seine Gedanken zu sortieren“, erklärte ich kurz darauf.

„Zeit hat er doch ohne Ende. Wenn er nur zwei Tage in der Woche arbeitet, dann kann er doch einen Kaffee mit uns trinken.“

„Das, was er jetzt macht, ist ebenfalls Arbeit. Auch wenn er dafür kein Geld bekommt“, begann ich.

„Spazieren gehen ist Arbeit?“, fiel mir Mona ins Wort und schüttete sich dabei ein Päckchen Zucker in den Kaffee. „Na dann…“

Unruhig rutschte ich auf dem Stuhl hin und her.

„Ich meine nicht das Spazierengehen, sondern das Nachdenken. Das ist Arbeit. Es braucht Zeit, bis er sein Gedicht im Kopf fertig hat und es dann aufschreiben kann.“

Mona sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Und weil er denkt, kann er keinen Kaffee mit uns trinken? Verstehe ich nicht. Er kann doch später weiterdenken.“

Ich seufzte. Da war es, unser leidiges Thema, das in den vergangenen Jahren immer wieder zwischen uns gestanden hatte. Ich setzte mich also aufrecht hin und versuchte erneut, es Mona zu erklären.

„Kreativität ist nicht dasselbe wie Regale einräumen. Das kannst du zu jeder Tages- und Nachtzeit machen. Aber die kreative Schaffenskraft ist nicht rund um die Uhr gleich stark. Die musst du packen, wenn sie kommt. Und es ist ein launisches Biest. Ich kann auch nicht auf Knopfdruck schreiben!“

„Okay“, sagte Mona und blickte auf. „Lass uns lieber über was anderes reden.“

„Sag ich doch“, murmelte ich und starrte dabei in meinen Kaffee. Ein teures Getränk, wenn man dafür zwei Stunden in der Kälte fror und einem die Finger fast abfielen. Dann sah ich zu Mona rüber, die auf ihrem Handy ihre Nachrichten kontrollierte. Obwohl es nicht einfach war, mit Mona über mein Schreiben zu reden, lag mir dennoch ein Gedanke auf der Seele.

„Du weißt doch, ich wollte schon mein ganzes Leben lang schreiben. Richtig schreiben. Nicht für eine Redaktion oder so. Sondern meine Geschichten.“

Mona sah von ihrem Handy auf.

„Damals, als ich gerade mein Abi in der Tasche hatte, war ich mit Franziska für ein paar Wochen in Thailand. Wir wollten unseren Abschluss feiern und noch ein wenig Spaß haben, ehe der Ernst des Lebens losgeht. In Bangkok haben wir uns einige Tempel angesehen, in vielen wurde meditiert, Räucherstäbchen angezündet und so. Das hätte dir gefallen.“

Mona lächelte.

„In einem Tempel saßen auch Leute, die einem aus der Hand gelesen haben.“

Ich versuchte in den Augen meines Gegenübers zu ergründen, was sie davon hielt.

„Waren das Mönche?“, fragte meine Freundin.

„Ehrlich? Ist das alles, was dich interessiert? Ich denke nicht, dass es Mönche waren. Sie hatten keine Mönchskleidung an.“

Ich sah in meinen Becher Kaffee, der leider schon halb leer war.

„Und?“, fragte Mona. „Was ist passiert? Habt ihr euch aus der Hand lesen lassen?“

Ich hatte sie richtig eingeschätzt. Meine Freundin war offen für alles, wenn es nur verrückt genug war.

„Wir haben uns natürlich aus der Hand lesen lassen. Erst Frankie und dann ich. Damals hat der Mann gesagt, dass ich irgendwann mit dem Schreiben meinen Lebensunterhalt verdienen werde. Als Schriftstellerin.“

„Er hat echt gesagt, dass du Schriftstellerin wirst?“

Mona sah mich in einer Mischung aus Unglaube und Neugierde an. Vielleicht hatte ich ein wenig übertrieben.

„Nicht genau“, sagte ich deshalb. „Er meinte, dass ich viel reisen würde und großen Erfolg in meinem Job haben werde. Und dann habe ich ihn gefragt, ob ich mit dem Schreiben Geld verdienen könnte. Darauf hat er gesagt: ‚Ja, warum nicht?‘ “

Ja, warum nicht? Das war alles?“

Ich nickte und blickte verstohlen auf den Tisch.

„Ja, das war alles.“

„Okay.“

Mona widmete sich wieder ihrem Handy. Sie hatte nicht verstanden, worauf ich hinauswollte. Wir tranken schweigend unseren Kaffee weiter.

„Was ist los mit dir?“, fragte ich nach ein paar Minuten. „Ich erkenne dich gar nicht mehr. Jede freie Minute schleifst du uns zur Arbeit. Das war früher mein Part. Du warst die, die lieber meditieren wollte.“

„Tue ich ja auch noch. Das kann ich allerdings auch abends machen.“ Dabei sah sie nicht auf. Der Seitenhieb auf meine Kreativitätsrede kam dennoch an.

„Trotzdem! Du warst nie scharf darauf, in der Kälte zu arbeiten. Was ist los mit dir?“

„Das weißt du doch selbst! Wir hatten ein schlechtes Jahr. Überall tauchen diese neuen Statuen auf. Sie schießen wie Pilze aus der Erde. Und anstatt die Cowboys zu kopieren, machen sie alle meine Blumenfrau nach.“

„Na ja, es sind ja auch Frauen“, sprach ich meinen ersten Gedanken aus und wusste schon, als der Satz in meinem Ohr nachklang, dass Mona genau das gerade nicht hören wollte.

„Nicht alle“, fauchte sie. „Die besonders Hässlichen sind Männer.“

„Ich weiß, Mona. Aber wir können es nicht ändern.“

Meine Freundin sah mir in die Augen.

„Wir haben kaum genug Geld verdient, um über den Winter zu kommen. Und die schlechten Monate liegen noch vor uns.“

Damit meinte Mona Januar und Februar, in denen für gewöhnlich viel weniger Touristen nach Spanien kamen.

„Ja, aber dafür liegt doch auch noch der Dezember vor uns. Da sind wieder mehr Touris auf Reisen und die Menschen werden spendabler. Du weißt doch, der Geist der Weihnacht!“ Während ich den letzten Satz aussprach, lächelte ich so zuckersüß, wie ein Marzipanschweinchen schmeckt.

„Und wenn es noch kälter wird?“

Ich seufzte. Natürlich war das möglich. Und natürlich würden wir bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt irgendwann nicht mehr arbeiten können. Aber wie wahrscheinlich war das in Spanien? Ich erinnerte mich an die wenigen Male, an denen wir bei unter null Grad gearbeitet hatten. Unter anderem war es eine halbe Woche im vergangenen Winter in dieser Stadt gewesen, in der das Thermometer sich geweigert hatte, über ein Grad zu steigen. Diese Tage waren alles andere als gemütlich gewesen. Ich erinnerte mich an meine Hände, die nicht mehr warm werden wollten, an das Gefühl, wie sich die Kälte in meinem ganzen Körper ausbreitete, an meine Nasenspitze, an der kleine Eiszapfen hingen, an meine Zehen, die ich nicht mehr spüren konnte, und die totale Erschöpfung, die mich nach Feierabend überkam. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt zu arbeiten, machte alles andere als Spaß. Dennoch hielten wir durch und verdienten Geld.

„Es wird schon möglich sein, dann und wann aufzutreten. Außerdem haben wir doch ein wenig Geld gespart. Reicht das denn wirklich nicht bis zum Frühjahr?“

„Vielleicht“, sagte Mona. Danach holte sie tief Luft, ehe sie fortfuhr. „Aber das ist doch nicht die Lösung. Die Leute aus den neuen EU-Ländern werden alle herkommen und sehen, dass man als Statue Geld verdienen kann. Das werden noch mehr im nächsten Jahr. Und im Jahr darauf wieder.“

„Du hast recht. Die Leute gehen in ein fremdes Land, um ihr Glück zu suchen. Wie frech von denen. Und dann sehen sie, dass man als Statue ordentliches Geld verdient und machen das nach.“

Ich sah meiner Freundin tief in die Augen.

„Mona, das haben wir vor ein paar Jahren ganz genauso gemacht. Nur, dass wir nicht vor einem furchtbaren Regime oder einem Leben ohne Hoffnung davongelaufen sind, sondern aus der Routine eines langweiligen Alltags. Erinnerst du dich an deinen Job in diesem Hamburger-Restaurant?“

„In deiner Redaktion warst du aber auch nicht gerade glücklicher“, konterte meine Freundin.

„Das meine ich ja.“ Ehe ich fortfahren konnte, unterbrach sie mich erneut: „Aber wir haben niemanden kopiert! Wir haben uns unsere Statue selbst ausgedacht!“

Damit hatte meine Freundin allerdings recht. Fast in jeder Stadt, in der wir in diesem Jahr aufgetreten waren, hatten wir eine silberne Blumenfrau mit einem Korb Rosen in der Hand und einem schräg sitzenden Hut auf dem Kopf entdeckt. Allerdings arbeiteten diese Damen alleine, also ohne eine herausragende Apfelfrau an ihrer Seite. Ihre Kostüme waren mit wenig Liebe zum Detail zusammengestellt und beim Schminken ließen sie oft den Hals und die Hände aus. Wenn diese Nachlässigkeiten sie nicht schon als echte Künstlerinnen disqualifiziert hätten, dann spätestens der weiße Plastikklappstuhl, auf dem sie wie ein nasser Sandsack hockten.

„Wir sind im Vergleich zu denen aber echte Kunst“, sagte ich. „Das sehen die Leute auch! In unserer Arbeit steckt Herz und Engagement. Wir wollen nicht fürs Rumsitzen Geld haben.“

Meine Freundin schüttelte den Kopf.

„So liebevoll, wie du mit der Rose spielst, das machen die anderen nicht. Deshalb werden wir auch so oft fotografiert. Die anderen werden doch kaum fotografiert“, versuchte ich Mona zu überzeugen.

„Die Leute gucken gar nicht genau hin. Vorhin hat schon wieder einer gesagt, dass wir jetzt an jeder Ecke sitzen.“

Solche Aussagen taten weh.

„Das wird schon wieder. So wenig haben wir in den letzten Jahren doch gar nicht verdient. Guck dir nur alleine Linus an. Den haben wir vor zwei Jahren gekauft. Im Vergleich zu seinen Vorgängern ist der ja fast ein Haus auf Rädern.“

Ich erinnerte mich an Woody, unseren ersten Camper, den wir für 1600 Mark, also etwa 800 Euro, in Hamburg erstanden hatten. Dieser Bus war damals schon über zwanzig Jahre alt, schluckte so viel Diesel wie eine alte Lock und hoppelte mit gerade mal vierzig Stundenkilometern über die Pyrenäen. Dass wir es mit dem alten VW überhaupt bis nach Spanien geschafft hatten, hatte an ein Wunder gegrenzt. Damals waren wir allerdings hoch motiviert. Wir wollten es unbedingt schaffen. Aufgeben kam nicht in Frage.

„Linus ist schon über zwölf Jahre alt“, warf Mona ein.

„Aber dank ihm müssen wir nicht mehr mit der riesigen Daisy reisen.“

Daisy war ein Imbisswagen gewesen, den wir zeitgleich mit Woody gekauft hatten. Vor zwei Jahren hatten wir Daisy gegen einen viel kleineren Transportanhänger eingetauscht, den wir auf den Namen Martha getauft hatten.

Dass wir unseren Fahrzeugen Namen gaben, war eine Marotte von uns. Es begann fast beiläufig, dass wir dem ersten Bus aufgrund der beiden mittleren Buchstaben im Kennzeichen den Namen Woody gaben. Irgendwie erhielten alle unsere Fahrzeuge daraufhin einen Namen und wurden damit zu einem Teil unseres Teams.

„Linus ist aber auch schon älter. Wer weiß, wie lange er durchhält und ob wir uns jemals wieder ein Wohnmobil leisten können, wenn er auseinanderfällt.“

Was war nur mit Mona los? So pessimistisch kannte ich sie gar nicht.

„Vielleicht sollten wir keinen Kaffee mehr auswärts trinken gehen“, schlug ich vor. „Ich meine, was hat es für einen Sinn, zwei Stunden zu frieren, wenn wir das Geld gleich wieder zum Aufwärmen ausgeben?“

Mona sah mich mit traurigen Augen an.

„Wir wollten doch irgendwann mal eine Finca kaufen“, sagte sie leise.

Ein tiefer Seufzer entfuhr mir.

„Wie viel haben wir denn heute verdient?“, fragte ich.

Meine Freundin holte die Münzen aus der Tasche und warf sie zwischen uns auf den Tisch.

„Acht Euro zwanzig?“, fragte ich ungläubig.

„Na, aber den Kaffee haben wir davon schon bezahlt.“

„Ehrlich, Mona. Bei aller Liebe. Acht Euro zwanzig plus die zwei Euro für den Kaffee macht zehn Euro und zwanzig Cent. Für zwei Personen in zwei Stunden. Damit sind wir keine Silbernäschen mehr, sondern allerhöchstens Schrottnäschen! Das geht so nicht weiter. Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.“

Ich sprach es nicht aus, aber ich dachte an meine Schreibzeit. Nach der Hauptsaison, die wie jedes Jahr im Oktober in Zaragoza geendet hatte, arbeiteten wir für gewöhnlich nur noch von Freitag bis Sonntag. Natürlich nahmen wir die Feiertage und die Brückentage mit und zwischen dem 1. Dezember und dem 6. Januar ließen wir auch keinen Tag ausfallen. Aber die anderen Tage im Winter gehörten uns. Das war heilig! Das waren unsere Urlaubsmonate. Mona meditierte, machte Yoga und trank Kräutertees. Und ich schrieb eben in jeder freien Minute. So war es in den vergangenen Jahren immer gewesen. Daran wollte ich nichts ändern.

Allerdings hatte Mona in den letzten Wochen so viel Druck gemacht, dass wir jeden Vormittag rausgingen, um uns für ein paar Münzen den Allerwertesten abzufrieren. Nachmittags war ich von der Kälte so ausgelaugt, dass es für mich unmöglich war, etwas zu schreiben. Mona trank dennoch ihren Tee und meditierte.

So konnte mein Leben nicht weitergehen! Monas Ängste nahm ich ernst, aber meine Leidenschaft für das Schreiben durfte nicht hintenanstehen.

Lange Zeit saßen wir am Tisch und schwiegen uns an.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen“, sagte ich in die Stille. „Wegen des Geldverdienens, meine ich. Aber bis zur Weihnachts­saison werde ich mich dem Schreiben widmen und nur noch an den Wochenenden mit dir zur Arbeit gehen.“

Meine Freundin sagte nichts darauf. Ich konnte ihre Enttäuschung spüren. Ich wusste, wie sehr sie sich eine Finca wünschte. Aber so sehr die Grundstückspreise aufgrund der Immobilienkrise derzeit auch gefallen waren, mit einem Verdienst von fünf Euro für zwei Personen in einer Stunde würden wir uns niemals ein Stückchen Spanien leisten können.


Von der Kälte des Vormittags angeschlagen und durch unser Gespräch bei Pans richtig niedergeschmettert, kamen wir an dem Parkplatz an, auf dem wir mit unserem Gespann unser Winterquartier aufgeschlagen hatten. Direkt nebenan lag ein moderner Spielplatz, der zu der Neubausiedlung gehörte, die dieser Gegend ihren Stempel aufgedrückt hatte. Neben dem Platz für die Kinder hatten die Stadtplaner auch einen Bereich für Hunde und deren Besitzer eingerichtet. Offenbar wusste man im Rathaus, dass es unweigerlich zu Konfrontationen kommen würde, wenn man sandessende Kinder und häufchenhinterlassende Hunde nicht klar voneinander trennte.

Auf der anderen Seite der Kreuzung wirkte ein moderner Kirchturm ein wenig deplatziert. Der Bau aus nacktem Beton wurde von einer kleinen Parkanlage umrandet, die genauso steril wirkte wie die Kirche selbst.

Alles in allem durchflutete diesen Stadtteil eine Aura des Kleinbürgertums. Die Bürgersteige waren sauber, die Menschen zuvorkommend und die Kinder waren nicht ganz so wild wie ihre Altergenossen in anderen Gegenden.

Das war jedoch nicht der Grund dafür, weshalb ich mich darüber freute, nach Hause zu kommen. Es war Linus, unser neues Wohnmobil, ein Citroën C25 mit Bürstner-Aufbau, der diese Freude auslöste. Er war bereits 12 Jahre alt gewesen, als wir ihn gekauft hatten. Aber trotz seines Alters verdiente Linus im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern die Bezeichnung Zuhause.

In Woody und seinem baugleichen Nachfolger Eddy hatten wir gerade so viel Platz gehabt, uns einmal um die eigene Achse drehen zu können. Diejenige, die nicht kochte, musste sich setzen, um nicht im Weg zu stehen. Und wenn man duschen wollte, musste die Campingtoilette aus dem Bad geholt werden. In Linus hatten wir nahezu einen kleinen Laufsteg, der von der ersten Vierersitzgruppe zur zweiten, weiter hinten gelegenen Sitzgelegenheit führte. Viele Dinge, die wir vorher in unserem großen Hänger untergebracht hatten, fanden nun in dieser hinteren Sitzgruppe Platz. Ein riesiger Vorteil, wenn man bedachte, dass wir früher oftmals den halben Hänger ausräumen mussten, sobald wir ein Schräubchen oder eine Rolle Klebeband benötigten.

Obwohl wir nun die Möglichkeit gehabt hätten, in getrennten ‚Schlafzimmern‘ zu nächtigen, schliefen wir weiterhin gemeinsam unter den Alkoven. Schließlich gab es da oben genug Platz. Zudem waren weder Mona noch ich von der Idee begeistert, jeden Abend die vordere Vierersitzgruppe zu einem Bett umzubauen.

Mit dem Raum, den Linus bot, konnten wir uns sogar Übernachtungsbesuch aus Deutschland einladen. Wir hatten so viel Platz, dass eine von uns durch den Gang hätte tanzen können, während die andere kochte. Am allerbesten war allerdings, dass wir das Badezimmer nicht mehr auseinander­nehmen mussten, um es in eine Dusche zu verwandeln. Nachdem wir fünf Jahre lang auf der Größe von zwei mal drei Metern unseren Feierabend verbracht hatten, war der Neue im Team der pure Luxus.

Mit Linus und dem kleinen Lastenanhänger Martha lebten wir im Aussteigerhimmel. Man musste erst einmal eine Strecke der Entbehrung durchlebt haben, um die Vorzüge, die in den kleinen Dingen steckten, vollständig genießen zu können. Eine Heizung zum Beispiel, die ansprang und innerhalb weniger Minuten den Raum aufheizte, war für die meisten Menschen selbstverständlich. Aber ich erinnerte mich gut an die vielen Morgende, an denen die Heizung in Eddy nicht ansprang oder in Woody das Wasser zum Duschen nicht warm werden wollte.

Neben uns parkte ein grüner Mercedes‑Bus mit Berliner Kennzeichen. Ich schätzte, dass er ähnlich alt war wie Eddy, als wir ihn verkauft haben. Allerdings machte der Mercedes einen deutlich besseren Eindruck als unser letzter VW-Bus, der gar nicht so schnell entrostet werden konnte, wie er nachrostete.

Der Besitzer dieses grünes Schmuckstücks hieß Diego. Wir hatten ihn über María kennengelernt, die alleinreisende Straßenkünstler einsammelte wie andere Leute streunende Katzen. So waren auch wir letztendlich zu ihr und ihrem Mann Pedro, dem Puppenspieler, gestoßen, die inzwischen zu unseren besten Freunden zählten.

Diego war Argentinier. Er kam mit einer Welle von Argentiniern nach Spanien, die durch die Wirtschaftskrise in ihrem Heimatland nach Europa gespült wurden. Viele seiner Landsleute erkannte man an der Thermoskanne unter dem Arm und der kleinen Kalebasse in der Hand, aus der sie ihren Matetee schlürften. Diego trank zwar keinen Matetee, dennoch verriet ihn seine Sprache. Argentinier sprachen ein Sing-Sang-Spanisch, das sogar ich mittlerweile erkannte.

Unser Nachbar arbeitete als Clown auf der Straße und knotete aus Zauberballons für Kinder Blumen, Schwerter und Tierfiguren. Wenn man sich seine zufriedenen Kunden ansah, wusste man, dass er seinen Job gut machte.

In der Zeit, in der Diego arbeitete, reiste er meistens alleine. Seine Freundin, eine Holländerin, besuchte ihn nur ab und an. Das hieß aber nicht, dass er einsam war. Immer wieder brachte er Leute mit, die er in einem besetzten Haus, in der Suppenküche oder sonst wo aufgegabelt hatte. Er nahm das Leben und die Menschen so, wie sie kamen. Eine Einstellung, die ich manchmal bewunderte, die man sich aber nicht mal so eben abgucken kann. Vor allem dann nicht, wenn man gewohnt war, alles doppelt und dreifach zu hinterfragen, wie ich es meistens tat.

Wir hatten gerade die Klappe unseres Hängers geöffnet, als Diego aus seinem Bus stieg.

„Hi, da seid ihr ja“, begrüßte er uns. „Immer fleißig, was?“

Unser argentinischer Freund konnte nicht anders, als uns immer wieder mit unseren vermeintlich deutschen Tugenden aufzuziehen. In seiner Heimat galten wir Alemanes als strebsam, arbeitseifrig, clever und nüchtern. Er selbst hatte ein paar Jahre in Deutschland gewohnt und sich von der Richtigkeit dieser Vorurteile überzeugen können, wie er meinte. Mittlerweile lebte er aber schon wieder vier Jahre in Spanien, nicht nur der Sprache wegen, wie er beteuerte, sondern weil die Iberer eher seinem Temperament entsprachen.

„Wir haben nicht bis jetzt gearbeitet“, sagte ich, obwohl es nicht ganz stimmte. „Aber es sieht so aus, als ob du noch was vorhast.“ Dabei zeigte ich auf seine große Reisetasche, die er über die Schulter geworfen hatte.

Er nickte mit einem schelmischen Lächeln.

„Sicher, dass ihr nicht mal mitkommen wollt?“

„Danke, aber nein danke“, war Monas energische Antwort, nachdem sie ihr Podest in den Hänger geschoben hatte.

„Nee, echt nicht“, bestätigte ich. „Aber Danke für das Angebot.“

Meine Freundin sah mich grinsend an und schüttelte leicht den Kopf. Diego bekam das glücklicherweise nicht mit.

„Na denn, bis morgen!“

Ich hob zum Abschied die Hand. Dann machte er sich über den Spielplatz davon und verschwand im schummrigen Licht der Nachmittagsstunden.

Mona zeigte mit dem Kinn Richtung offenen Hänger. Nachdem ich meine Arbeitskiste in Martha geschoben hatte, hoben wir die schwere Eisenrampe des Lastenanhängers von beiden Seiten an. Mit einem Rums krachte die Tür auf den Kasten und mit zwei schnellen Handgriffen ließen wir die Riegel auf beiden Seiten einrasten. Ich bückte mich und hob die Vorhängeschlösser auf, die nur so groß waren, wie die, die man an Reisetaschen befestigte. Früher hätte mich eine so schwache Sicherung beunruhigt, aber größere Schlösser ließen sich einfach nicht in den kleinen Ösen der Riegel anbringen.

Die sieben Jahre in Spanien hatten uns gelehrt, dass der sicherste Platz vor Dieben ein Anhänger war. Nach mehreren Einbrüchen in unser mobiles Heim in unserem ersten Jahr hatten wir Woody immer mehr nachgerüstet, um die Diebe von weiteren Einbrüchen abzuhalten. Doch mit jedem Umbau im Bus, der unserer Sicherheit dienen sollte, wurden auch die Einbrecher immer erfindungsreicher und dreister. Zunächst hatten wir nur dicke Vorhängeschlösser vor die Türen gesetzt, woraufhin sie ein Fenster des Wohnbereichs aufbrachen. Dann brachten wir Metallstangen vor den hinteren Fenstern an. Als sie da nicht hineinkamen, schlugen sie das Fenster auf der Beifahrerseite ein. Also zogen wir eine Holzwand zwischen Fahrerhäuschen und Wohnkabine ein. Doch auch das schreckte die Diebe nicht ab. Sie zerschlugen zum zweiten Mal das Fenster auf der Beifahrerseite und traten so lange gegen die Holzwand, bis die Befestigungen nachgaben und ein Teil der Innenverkleidung des Busses ausbrach. Wertvolles haben die Diebe bei diesem Einbruch zwar nicht erbeutet, da wir mittlerweile in doppelten Böden und Hohlräumen Verstecke eingebaut hatten, in denen wir unsere wichtigsten Dinge aufbewahrten. Dennoch war der Schaden, den die Einbrecher an diesem Tag hinterließen, immens hoch.

Mit jedem Fahrzeug, das wir neu erwarben, ging das Spiel von vorne los. Wir lebten mittlerweile in einem Fort Knox auf Rädern. Spanische Kollegen rieten uns, CDs von einem bestimmten Gitano-Sänger sichtbar in die Windschutzscheibe zu legen. Angeblich würde das die Diebe fernhalten. Diesem Rat sind wir allerdings nie gefolgt.

Unsere schlimmste Erfahrung war jedoch, als wir einmal nach einer langen Schicht nach Hause kamen und die halbe Tür der Wohnkabine herausgerissen unter Linus auf der Straße lag. Im Wohnmobil hatten sie alles aus den Schränken gerissen und ein riesiges Chaos hinterlassen. Es dauerte drei Stunden, ehe wir die Tür wieder eingebaut hatten. Es war zwar nur eine provisorische Lösung, aber sie sollte auch nur so lange halten, bis wir in eine andere Stadt gefahren waren, um die Tür richtig zu reparieren. Als sich Mona noch in derselben Nacht ans Steuer setzte, erhielten wir den größten Schock unseres Lebens. Die Diebe waren nicht nur eingestiegen, sie hatten sogar versucht, Linus komplett zu stehlen. Dabei hatten sie das Lenkradschloss dermaßen beschädigt, dass wir mit dem Wohnmobil nicht einmal mehr den Parkplatz verlassen konnten. In der Nacht machten wir kaum ein Auge zu, da wir Angst hatten, dass die Diebe zurückkämen. Unsere Tür war ja nur provisorisch gesichert.

Um das Geld für die Werkstatt und die Fahrt mit dem Abschlepp­­unternehmen zu sparen, wollten wir selbst versuchen, den Schaden zu beheben. Deshalb gingen wir am darauffolgenden Morgen in ein Internetcafé und versuchten in einem deutschen Camper-Forum herauszubekommen, wie man seinen eigenen Wagen stiehlt. Natürlich waren die Forumsmitglieder zunächst nicht sehr hilfsbereit und spekulierten darüber, ob wir wirklich Hilfe benötigten oder vorhätten, eine kriminelle Berufslaufbahn einzuschlagen. Irgendwann erbarmte sich zum Glück ein Mann im Forum und erklärte uns, was zu tun wäre. Vermutlich war unsere Geschichte dermaßen verrückt – zwei Hamburger Straßenkünstlerinnen in Spanien, die seit sieben Jahren als lebende Statuen arbeiteten – dass er sich nicht vorstellen konnte, dass sich jemand so etwas ausdachte. Ich verbrachte Stunden im Fußraum des Fahrersitzes und hämmerte von unten auf glatzköpfige Schrauben ein, um sie Stück für Stück zu lösen. Ich war sowohl körperlich als auch psychisch total am Ende, als ich endlich die metallenen Blöcke um die Lenkachse löste, unter der sich der Mechanismus des Lenkradschlosses befand.

Im Gegensatz zu den diversen Wohnmobilen wurde unser orange leuchtender Imbissanhänger mit seinem winzigen Türschlösschen nicht ein einziges Mal aufgebrochen!

Mona stand immer noch vor Linus. Sie hatte den Schlüssel bereits in der Hand.

„Diego verdient nicht so viel“, sagte ich zu meiner Freundin, die erneut den Kopf schüttelte.

„Nein“, sagte sie, während sie Linus öffnete. „Es ist ja nicht, dass ich nicht gut finde, was er macht. Ich weiß nur nicht, ob ich das tun könnte.“

Damit verschwand sie in unserem Wohnmobil. Ich folgte ihr.

„Wenn du Hunger hast, schon.“

„Das glaube ich nicht!“, sagte Mona und warf ihren Rucksack auf die Bank.

„Es ist ja nicht so, dass es Müll wäre.“

„Aber es lag im Müll“, erwiderte meine Freundin. „Und wenn ich mir nur die schimmeligen Container vorstelle… Das ist ekelig!“

„Ja, das stimmt. Aber die Sachen sind meistens wirklich noch gut.“

Ich ging zur Heizung rüber und versuchte sie anzuwerfen. Sie tackerte unruhig. Mona sah mich mit ungläubigem Blick an.

„Du hast doch nicht etwa davon gegessen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Wieso nicht?“

„Weil das unhygienisch ist!“, beharrte Mona.

Die Heizung sprang an.

„Die Supermärkte sollten es auch lieber neben den Müll stellen. Aber das dürfen sie wohl nicht. Irgendwelche Bestimmungen eben. Europa sei Dank! Außerdem ziehen sie dann noch mehr Menschen an, sagt Diego. An den Wochenenden müssen echt viele Leute unterwegs sein.“

Ich setzte mich auf meine Seite der Bank. Mona starrte mich immer noch an.

„Kenne ich dich?“, fragte meine Freundin.

„Sie bilden Gruppen und teilen ihre gefundenen Dinge auf. Wenn das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, schmeißen die Geschäfte gleich mehrere Pakete von einem Artikel weg.“

Meine Freundin sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann setzte sie sich mir gegenüber an den Tisch. Die Heizung knisterte Wärme versprechend im Hintergrund.

„Ja, schon gut. Ich habe mal eine Banane probiert. Sie hatte zwar eine braune Schale, aber es war eine Bio-Banane und hatte sogar einen Fairtrade-Aufkleber“, sagte ich, als ob ich mich für etwas rechtfertigen müsste. Im selben Tonfall fügte ich hinzu. „Es war eine Banane! Die sind von Natur aus super verpackt!“

„Und bio und fairtrade, ich habe schon verstanden“, erwiderte Mona.

Ich stand auf und ging zur Heizung rüber. Über dem wärmenden Metall rieb ich meine eiskalten Hände aneinander.

„Ich sage ja nicht, dass wir das auch machen müssen. Aber es ist eine gute Sache. Es gibt viele Leute, die wenig oder gar kein Geld haben. Und die Lebensmittel sind gut. Dass die Supermärkte sie nicht mehr verkaufen dürfen, heißt ja nicht, dass sie nicht mehr genießbar sind.“

Mona hatte in der Zwischenzeit Wasser für einen Tee aufgesetzt.

„Pfefferminz oder Roibusch?“

„Roibusch mit Vanille?“

„Nö, steht hier nicht drauf. Nur Roibusch.“

„Dann Pfefferminz.“

Ich setzte mich wieder.

„Es wird viel zu viel weggeworfen“, sagte ich noch einmal.

„Willst du auch containern gehen?“

„Nein! Ich sage doch, dass es Leute gibt, die auf diese Lebensmittel angewiesen sind. Wir sind es nicht!“

„Noch nicht“, sagte Mona.

Mir war nicht klar, wie ernst sie das meinte.

„Wenn ich in die Situation käme, kein Geld mehr verdienen zu können, dann würde ich es machen. Warum auch nicht? Diego lebt fast zu hundert Prozent von den Dingen, die er findet.“

„Und was macht er mit dem Geld, das er verdient?“

„Vielleicht auf eine Finca sparen?“, sagte ich grinsend.

Mona sah mich kopfschüttelnd an.

„Dann lieber keine Finca.“

„Ehrlich?“

So hätte ich meine Freundin nicht eingeschätzt. Ich dachte, dass der Kauf einer Finca der erste Schritt zur Erfüllung ihres Lebenstraums, ein Yoga- und Mediationszentrum zu eröffnen, war. Dass sie die Möglichkeit, auf diese Weise Geld zu sparen, so kategorisch ablehnte, überraschte mich.

„Hast du dir die Sachen überhaupt schon mal angesehen?“, wollte ich wissen.

„Wozu? Ich esse sie doch nicht. Außerdem brauchen andere Leute die Lebensmittel dringender, wie du gesagt hast.“

„Es geht ums Prinzip“, hakte ich nach, obwohl ich selbst auch nicht begeistert von dem Gedanken war, meine Lebensmittel aus dem Müll zu beziehen. „Ich dachte, du wärst da lockerer.“

„Lockerer? Weißt du, was da für Keime dran sind?“

„Ja, das weiß ich. Ich habe mir nämlich die Sachen angeguckt.“

Schweigend sahen wir aus dem Fenster.

„Mona?“

„Ja?“

„Das Wasser kocht.“

Mona füllte die Becher mit dem siedenden Wasser auf und stellte die Getränke auf den Tisch.

„Und?“, fragte Mona in die Stille.

„Ehm, danke?“, fragte ich zurück.

„Ach Blödsinn. Nicht der Tee. Aber gerne. Wie sehen die Lebensmittel denn aus?“

„Na ja, wie alle anderen auch. Nur dass das Datum eben abgelaufen ist. Die Sachen sind verpackt, meistens sind lediglich die Kartons verbeult. Aber viele Lebensmittel sind zusätzlich in Plastikbeuteln verschweißt. Genau wie das Gemüse.“

Mona hörte aufmerksam zu.

„Und? Willst du, dass wir es probieren?“, fragte Mona noch einmal.

„Bist du verrückt? Es war eine rein theoretische Unterhaltung. Wie gesagt, da draußen gibt es Leute, die haben echt wenig Geld.“

„Du bist zu gut“, frotzelte sie.

„Na ja, man tut, was man kann.“

Ich pustete in meinen Tee, wartete noch einen Augenblick und nahm dann vorsichtig einen Schluck.

„Du hast doch nie im Leben eine Banane von Diego gegessen, oder?“

Verdammt! Mona kannte mich viel zu gut.

„Es geht ums Prinzip! Ich hätte sie essen können, verstehst du?“, sagte ich störrisch und fügte leise hinzu: „Wenn ich gewollt hätte.“

Ich erhielt einen Tritt vors Schienbein. Dann wechselten wir das Thema.

„Wir müssen uns wegen des Geldverdienens etwas einfallen lassen“, sagte ich. „Aber solange die Weihnachtssaison nicht begonnen hat, werde ich mich meinen Schreibübungen widmen und nur noch an den Wochenenden mit dir zur Arbeit gehen.“

Mona schluckte. Ich dachte nach.

„Wir können unter der Woche ein neues Kostüm bauen“, sagte ich nach einer Pause.

Mein Gegenüber sah mich verwirrt an.

„Wozu ein neues Kostüm?“, fragte sie.

„Mona“, sagte ich mit lang gezogenem A. „Wir haben schon mal darüber gesprochen. Erinnerst du dich noch an Jerez vor ein paar Jahren? Ich habe damals alleine fast so viel Geld verdient wie wir beide sonst zusammen.“

Mona zuckte mit den Schultern.

„Erinnerst du dich nicht? Das war auf der Fiesta de mayo. Du warst mit einer fiesen Grippe für ein paar Tage ausgeknockt. Damals habe ich mit dem Kostüm der Blumenfrau gearbeitet. Dämmert es langsam? Ich war sogar in der Zeitung. Auf dem Titel!“

Das hatte Mona nicht vergessen.

„Nee, das war viiieeeeel weniger Geld.“

„Mona!“, sagte ich ein wenig grob. „Das war nicht so viel weniger. Und wenn wir ein zweites Kostüm hätten, das ähnlich gut funktioniert wie deine Blumenfrau, könnten wir unseren Verdienst bestimmt um wenigstens fünfzig Prozent steigern.“

„Aber wir können dann nicht mehr zur Toilette gehen!“

„Bitte?“

„Wenn wir getrennt arbeiten, können wir nicht zur Toilette, weil wir die Sachen nicht alleine lassen können.“

Ungläubig sah ich meine Freundin an.

„Na ja, manchmal muss ich eben.“

„Das wird man schon irgendwie hinbekommen. Und meistens hält deine Blase doch die zwei, drei Stunden pro Schicht durch, oder?“

„Ja“, grummelte Mona. „Meistens schon.“

„Lass es uns doch ausprobieren“, versuchte ich, meine Freundin für die Idee zu gewinnen.

„Dann müssen wir schon wieder Geld ausgeben“, murmelte Mona in ihren Tee. „Warum versuchst du es nicht mit der Apfelfrau?“

„Ehrlich? Mit dem Kostüm sieht mich doch keiner. Das Kopftuch ist mausgrau und auch die Strickjacke hat, anders als deine Bluse, keinerlei Applikationen. Nur die Äpfel strahlen in der Sonne. Ansonsten bin ich damit unsichtbar. Ein grauer Klops, der in einer grauen Straße sitzt. Die Leute werden an mir vorbeilaufen, ohne mich eines Blickes zu würdigen.“

Meine Freundin stand auf, ging zwei Schritte in Richtung Bad, kam dann aber doch noch einmal zurück.

„Wieder Geld ausgeben? Ich weiß nicht. Wenn das neue Kostüm genauso floppt wie dein Versuch damals mit den Zauberballons… Wir sollten einfach bei der Doppelstatue bleiben“, sagte sie laut und verschwand darauf schnell im Bad.

Ich musste meine Gedanken sammeln. War es nicht Mona, die mich ständig zur Arbeit trieb, um ein paar Euros zu verdienen? Warum stellte sie sich so an? Unternehmer mussten investieren, wenn sie mehr Geld verdienen wollten. Natürlich kam es manchmal auch zu Fehlinvestitionen. Aber sie tat gerade so, als würde ich mit dem Kauf eines neuen Kostüms unsere Existenz gefährden.

Als Mona wieder aus dem Bad rauskam, hatte sie offensichtlich ihre Gedanken ebenfalls sortiert. Entschlossen sagte sie: „Bevor wir Geld aus dem Fenster werfen, das wir nicht haben, versuchst du es zuerst mit der Apfelfrau!“

Ich protestierte, aber Mona fuhr fort: „Vielleicht klappt es ja. Und falls nicht, können wir immer noch Geld für was Neues ausgeben. Okay?“

Das war wieder typisch für Mona: Sie hatte ihrer Ansicht nach alles durchdacht und stellte mich vor vollendete Tatsachen. In mir brodelte es.

„Nein, nichts ist okay. Wenn du willst, dann kannst du ja die Petruschka ausprobieren und ich übernehme die Blumenfrau.“

Aber dieser Vorschlag stieß wie zu erwarten auf wenig Gehör.

„Die Blumenfrau mache ich schon so viele Jahre. Ich pflege das Kostüm, die Perücke und die Bluse. Das ist mein Kostüm. Da lasse ich niemanden ran!“

Sprachlos sah ich zu meiner Freundin auf, die sich immer noch nicht zurück an den Tisch gesetzt hatte.

„Ehrlich, dein Kostüm? Na dann…“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm ich mein Buch über kreatives Schreiben vom Tisch und stieg in das Bett. Sollte Mona doch selbst darüber nachdenken, wie wir mehr Geld verdienen würden. Ich hatte die Nase voll davon, dass sie das Ruder nicht aus der Hand gab.


Gegen Abend bekam ich Hunger. Mona saß immer noch am Tisch und hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt. Sollte ich den ersten Schritt machen, klein beigeben und es mit dem Kostüm der Apfelfrau ausprobieren, nur um ihr zu beweisen, dass es nichts brachte? Es wäre ein Vormittag, den ich dafür opfern müsste. Alles in mir sträubte sich dagegen. Nur mein Magen nicht. Dem war es egal, ob ich mich zum Affen machte. Hauptsache, er bekam in den nächsten dreißig Minuten etwas zu essen.

Ich stieg aus dem Bett und setzte mich Mona gegenüber an den Tisch. Wir sahen uns an. Eine ganz Weile sagte keine etwas, doch dann begann sie: „Ich habe nachgedacht.“

„Ich auch“, sagte ich mürrisch.

Wieder schwiegen wir. Eine würde nachgeben müssen. Ich hoffte, dass ich es nicht sein würde, die einknickte.

Meine Freundin nahm einen Schluck aus ihrem Glas und fragte: „Willst du auch?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nicht vor dem Essen“, sagte ich. „Ich wollte Nudeln machen. Hast du Hunger?“

Sie nickte leicht.

Dieses Zeichen nutzte ich, um aufzustehen. Die Stimmung, die den kleinen Raum erfüllte, konnte ich kaum ertragen.

Ich nahm den großen Topf aus dem Schrank, füllte ihn mit Wasser, warf eine kleine Handvoll Salz hinein und setzte ihn auf den Gasherd. Der Anzünder des Herds funktionierte wieder einmal nicht. Ein Griff zum oberen Schrank, in dem ein Feuerzeug lag, dann knallte ich die Tür zu und versuchte, den Herd zu zünden.

„Verdammt“, fluchte ich, nachdem die Flamme das dritte Mal ausgegangen war.

Mona stand auf und wollte mir das Feuerzeug aus der Hand nehmen.

„Lass, ich schaff‘ das!“, sagte ich bockig und versuchte es zum vierten Mal.

„Soll das jetzt den ganzen Abend so weitergehen?“, fragte meine Freundin.

Ich hielt den Knopf des Herds gedrückt und starrte auf die flackernde Flamme.

„Ich weiß nicht, sag du es mir“, zischte ich.

Ich ließ den Knopf los. Dieses Mal klappte es. Ich zog den Topf auf die Flamme und sah dann Mona in die Augen, die keinen halben Meter neben mir stand.

Dein Kostüm? Wirklich? Was soll das? Wir haben das Kostüm gemeinsam entwickelt, bezahlt und gebaut. Du pflegst es, na gut. Aber DEIN Kostüm?“

Endlich war die Luft, die in mir wie ein kleiner Hurrikan rotiert hatte, raus. Mona sah mich erschrocken an. Ich erkannte, dass ihre Augen feucht schimmerten.

„So habe ich das doch gar nicht gemeint. Es ist nur…“, dabei ließ sie sich auf die Bank fallen. „Du hast so einen dicken Kopf, ich meine groß. Und die Perücke sitzt eh schon locker. Auch die Bluse löst sich langsam auf. Die Nähte und so. Ich habe einfach Angst um das Kostüm.“

Schnell setzte ich mich auf die andere Seite des Tischs.

„Ich will doch gar nicht mit deinem Kostüm arbeiten“, nun hatte ich es selbst gesagt: Ihr Kostüm. Verdammt! „Aber meine Petruschka hat nichts Entzückendes. Die Strickjacke ist langweilig und das Kopftuch hat auch nichts Besonderes. Nur die Äpfel strahlen. Sonst sieht sie wirklich nur wie ein Zementklotz aus.“

Das Wasser kochte. Mona stand auf und warf die Nudeln hinein.

„Und wenn ich es mit deiner Apfelfrau probiere?“

Ungläubig sah ich sie an.

„Wenn du morgen schreiben willst, dann kann ich doch versuchen, mit deinem Kostüm zu arbeiten. Wenn ich darf, meine ich.“

„Ehm, natürlich. Ist doch unser Kostüm“, sagte ich und dachte dabei, dass es eigentlich meine Apfelfrau war. „Aber warum willst du es morgen probieren? Das ist ein normaler Dienstag ohne Touristen. Ich glaube nicht, dass das viel Sinn macht.“

Meine Freundin stand immer noch am Herd, rührte in dem Topf mit den Nudeln und starrte hinein.

„Vielleicht will ich verstehen, was an deinem Kostüm so schlimm ist, dass du nicht damit arbeiten willst“, sagte sie in den Wasserdampf hinein, der aus dem Topf aufstieg.

„Schlimm ist daran nichts. Zumindest nicht, wenn wir zusammen arbeiten“, sagte ich und zog Monas Weinglas zu mir rüber.

Ich sah in das Glas, spielte mit der roten Flüssigkeit und wollte gerade daran nippen, als ich innehielt und sagte: „Deine Rosenverkäuferin funktioniert auch ohne mich. Wir arbeiten nur zusammen, weil es leichter ist.“

Nun nahm ich einen Schluck des fruchtigen Getränks, das sanft meine Kehle hinabglitt. Mona setzte sich.

„Leichter?“

„Wir haben beide davor Schiss, alleine zu arbeiten. Oder?“

Mona dachte nach.

„Schiss? Na ja, es ist eben… wie du schon sagtest, es ist leichter.“

„Wir sollten es probieren“, sagte ich. „Aber ich glaube wirklich, dass uns meine Marktfrau nicht viel einbringen wird. Wir sollten etwas Neues entwickeln. Etwas, das vielleicht zu Weihnachten passt.“

Während Mona den Wein nachschenkte, holte ich eine Pfanne heraus. Ich musste nichts sagen. Meine Freundin stand von alleine auf, als ich die Zwiebel schnitt, um eine Flamme auf der zweiten Herdplatte anzuzünden. Ich schüttete Olivenöl in die Pfanne und ließ die Zwiebeln darin anbraten. Mona öffnete die Tomatendose und schnitt eine Paprika und eine Zucchini klein. Kein Wort fiel in diesen Minuten. Alles lief nach einem geheimen Drehbuch, an dem wir beide über die vergangenen Jahre mitgeschrieben hatten.

Mona stellte zwei Teller auf den Tisch, ich öffnete eine neue Flasche Wein, Mona holte Besteck heraus, ich ein zweites Glas, Mona füllte die Gläser und ich goss die Nudeln ab. Alles funktionierte reibungslos. Nur die Streitereien, die sich in den letzten Monaten häuften, störten dieses Idyll, das wir uns über die Zeit hinweg erschaffen hatten.

Nachdem ich die Teller mit den Nudeln befüllt und die Pfanne mit der noch dampfenden Soße auf den Tisch gestellt hatte, sah Mona mich an.

„Darf ich dein Kostüm morgen ausprobieren?“

„Wenn du willst“, sagte ich und nahm mir einen ordentlichen Klacks Soße. Mona tat es mir gleich. Dann ließen wir uns das Abendessen schmecken.


Meine Freundin machte sich tatsächlich am kommenden Morgen auf, um in der Innenstadt als Apfelfrau aufzutreten. Beim Abschied versprach ich ihr, sie gegen Mittag am Plaza Bib Rambla abzuholen. Ich wünschte ihr, dass sie wenigstens ein wenig Geld verdienen würde, hoffte aber gleichzeitig, dass es nicht zu viel wäre, denn in diesem Fall könnte ich mir ein neues Kostüm aus dem Kopf schlagen.

Ich nahm mir das Buch über das kreative Schreiben zur Hand, das zahlreiche Übungen zu diversen Techniken anbot. Gerade beschäftigte ich mich mit einer Aufgabe, bei der ich mich in die ‚Persönlichkeit‘ eines Alltagsgegenstands hineinversetzen und eine Geschichte aus seiner Perspektive erzählen sollte.

Vor mir stand mein voller Kaffeebecher. Wie fühlte er sich wohl, wenn ich morgens die Schranktür öffnete, ihn mit Kaffeepulver füllte und dann heißes Wasser darauf schüttete? War er freudig angespannt oder hatte er Angst vor dem heißen Wasser? Ich nahm ein Stück Papier und begann zu schreiben.

 

Aus dem Leben eines Kaffeebechers

„Ist es so weit?“

Ich stupste meinen Nachbarn zur Rechten an den Henkel.

„Hört sich so an, oder?“

Von draußen hörten wir das Knarren der Dielen, das Anknipsen des Lichtschalters und das lang gezogene Gähnen, welches jeden Morgen den Beginn des Tages verkündete. Die Schritte wurden immer lauter und die Aufregung stieg. Wen würde sie wohl heute auswählen? …

 

Die Zeit verflog jedes Mal, wenn ich mit einem Stift leeren Seiten Leben einhauchte. Meine Gedanken tauchten in die Geschichte ein, ich sah unser Wohnmobil aus der Perspektive dieses Bechers, stand auf einem Tisch und spürte das heiße Wasser in mir. Ich wurde zu diesem Becher und gab ihm einen Charakter, der meinem sicher nicht unähnlich war. Er war quirlig, neugierig, frech und abenteuerlustig. Ich schrieb wie im Rausch. Erst kurz nach halb zwei blickte ich auf die Uhr.

Viel zu schnell verstrich die Zeit, wenn ich in dieser anderen Welt war. Mal war es ein Piratenschiff, mal eine Verfolgungsjagd durch Hamburg oder eine leidenschaftliche Liebesszene. Alles um mich herum verschwand dann und eine neue Welt erschien. Aber diese Welt war eben nicht real. Nur meine Fantasie machte sie lebendig, für einen Augenblick, vielleicht ein paar Minuten, manchmal auch Stunden. Sobald ich meine Schreibübung beendet hatte, war diese Welt verschwunden. Zumindest solange, bis ich die Geschichte wieder las. Dann stiegen die Bilder erneut in mir auf, die Düfte verbreiteten sich in der Luft, und alles, was meine kleine Fantasiewelt mit Leben erfüllt hatte, wurde wieder lebendig.

Ich schrieb die letzte Zeile. Damit war der erste Entwurf dieser Geschichte fertig. Wahrscheinlich würde es lange dauern, ehe ich sie zu einem kleinen Meisterwerk aufpolieren würde. Aber das Grundgerüst stand.

Schnell spülte ich den Kaffeebecher, der kurz zuvor noch Protagonist meines Abenteuers gewesen war, packte meinen Rucksack und sprang aus dem Bus. Nach einem schnellen, aber gründlichen Sicherheitscheck an beiden Fahrzeugen lief ich los. Mona verdiente es gerade heute nicht, dass ich zu spät kam.


Gerade noch rechtzeitig kam ich am Plaza Bib Rambla an. Meine Freundin hatte an der Ecke zur Calle Zacatín gearbeitet. Diese unscheinbare Fußgängerzone verbindet den nicht nur bei Touristen sehr beliebten Platz mit der Gran Vía, hinter der sich der berühmte Stadtteil Albaicín mit seinem maurischen Einfluss verbirgt. Sowohl Einheimische, die in der Stadt ihren Einkauf erledigten, als auch die wenigen Urlauber, die mit ihren Kameras durch die verwinkelten Gassen schlenderten, kamen früher oder später an dieser Ecke vorbei. Mona hatte einen guten Standort für ihre Arbeit ausgewählt. Nichts anderes hatte ich erwartet.

Ich lief an einer Gruppe älterer Spanierinnen vorbei, die die traditionelle Churrería am Platz zum Ziel hatten. In diesen speziellen Cafés werden die frittierten Teigstückchen verkauft, die unter dem Namen Churros bekannt sind. In der Mitte, am Brunnen, standen vier Herren, die vermutlich die Fußballergebnisse des Wochenendes diskutierten. Eine englische Touristengruppe stand ebenfalls unweit des Brunnens. Eine Dame mit gelbem Hut erklärte ihnen etwas zur Architektur und zum Aufbau des mittelalterlichen Stadtkerns.

Meine Freundin hatte bereits die Requisiten der Apfelfrau eingepackt. Sie schminkte gerade ihr Gesicht ab, als ich ankam. Ich suchte die Geldbüchse, um heimlich einen Blick hineinzuwerfen, aber die hatte sie schon weggeräumt.

„Und?“, fragte ich neugierig.

„Na ja“, antwortete sie darauf, ohne konkreter zu werden. „Wie war es denn bei dir?“

„Klasse! Ich glaube, ich habe einen guten ersten Entwurf für eine Kurzgeschichte geschrieben.“

Am Hals entfernte sie die letzten Spuren des silbernen Make-ups. Dann legte sie den Spiegel in die Arbeitskiste und die restlichen Dinge, die noch draußen lagen, daneben. Ich wollte nicht hetzen, war aber schon gespannt, ob sie mit meiner unscheinbaren Marktfrau Erfolg gehabt hatte.

„Mona, wie lief es denn nun? War es gut? Bist du zufrieden?“

Eine Sekunde verstrich, eine weitere, dann drehte sie sich gemächlich zu mir um.

„Nöp“, war ihre Antwort.

Ich wollte schon nachfragen, aber Mona fuhr fort.

„Es gibt keine Busladungen voller Rentner mehr.“

„Und?“, fragte ich langsam genervt. „Was heißt das in Zahlen?“

„Ich darf mit Stolz verkünden, dass wir um fünf Euro und dreißig Cent reicher sind als heute Morgen „, sagte sie und hielt mir dabei eine Handvoll Kleingeld unter die Nase.

Ich blieb stumm. Für einen Dienstag in Granada war das Ergebnis fast schon gut. Aber was bedeutete das für das neue Kostüm?

„Was hältst du davon, wenn wir in der kleinen Tapasbar einkehren, das Geld verjubeln und du mir von der Idee mit dem neuen Kostüm erzählst?“

Ich grinste. Schnell schnappte ich mir die Kiste der Apfelfrau und schob damit los. Mona folgte mir.


Nur wenige Minuten später betraten wir unsere bevorzugte Tapasbar. Wie jeden Tag um die Mittagszeit drängten sich die Menschen dicht an dicht vor dem langen Tresen und warteten darauf, ihre Bestellung aufzugeben. Obwohl über den Tischen, die sich an den Seiten des Raums befanden und jeden freien Millimeter des Lokals einnahmen, alle Oberfenster geöffnet waren, hatte ich jedes Mal, wenn ich diese Bar betrat, das Gefühl, an Sauerstoffmangel zu ersticken. Nach dem anfänglichen Schock gewöhnte sich mein Körper allerdings immer recht schnell an dieses Luftgemisch, sodass mein Hirn wieder einsetzte und klare Signale vom Magen empfing, der nach Nahrung verlangte.

Im Vergleich zu Tapasbars in Deutschland, die meistens kleine Rationen verkaufen und diese Tapas nennen, wird in Spanien ein kleiner Snack, der kostenlos zu einem Getränk gereicht wird, Tapa genannt. Diese Snacks fallen von Region zu Region und von Bar zu Bar sehr unterschiedlich aus. Mal bekommt man Oliven oder Nüsse hingestellt, ein anderes Mal gibt es mit Käse oder Schinken belegte Baguettestückchen und in wieder anderen Bars werden warme Gerichte, die man normalerweise als große Portion zu Mittag essen würde, auf kleinen Tellern serviert. Unsere Bar gehörte zur dritten Kategorie und war deshalb gerade zur Mittags­zeit sehr beliebt. Statt nur ein Gericht zu essen, standen die Leute hier zusammen, nahmen zwei bis drei Getränke zu sich und aßen dazu unterschiedliche Köstlichkeiten in kleinen Portionen.

Seit unserem ersten Winter in Spanien gehörte diese Bar zu unseren Lieblingslokalen. María und Pedro hatten uns die Bar empfohlen, und auf Pedros Gaumen konnte man sich verlassen. Allerdings waren seine Tipps nicht immer so günstig wie diese Bar, die ein Getränk und einen echt leckeren Tapa für gerade Mal ein Euro achtzig anbot.

Wir drängten uns zwischen aufgehübschten Endvierzigerinnen, glattgegelten Ehemännern, wohlsituierten Anzugträgern und angetrunkenen Engländern bis zur Mitte der Bar vor. Von dort erkundeten wir, an welcher Seite des langen Tresens die Menschenmasse schneller bedient wurde. Auf der rechten Seite arbeitete der schlaksige Kellner, der gerne mal Bestellungen verwechselte. Wir wandten uns daher der andere Seite zu, an der drei junge Männer im Akkord die Bestellungen der unruhigen Meute abarbeiteten. Ich studierte die Tapaskarte, als Mona durch den Lärm, den die Leute um uns herum verursachten, rief: „Was trinkst du?“

„Ehm… also…“, dachte ich noch, als Mona nur zwei Sekunden später dem Barkeeper „dos tintos“ zurief.

„Und als Tapa?“, fragte sie, während der Mann hinter dem Tresen bereits die rote Flüssigkeit in Gläser füllte.

„Arroz“, rief ich, ohne lange nachzudenken.

Reis mit Meeresfrüchten war immer eine gute Wahl, denn er wurde warm serviert. Bocadillos, die mit Käse, Wurst oder Schinken belegten Baguettes, konnte ich mittlerweile nicht mehr sehen. Mona beugte sich über den Tresen zu unserem Kellner rüber und rief ihm unsere Bestellung ins Ohr.

Er nickte und verschwand. Keine dreißig Sekunden später stand die Bestellung vor uns auf dem Tresen. Die Weingläser waren, wie es bei Bestellungen mit einem Tapa üblich war, nur bis zur Hälfte gefüllt. Auch Bier und Softdrinks fielen deutlich kleiner aus, wenn man sie in Kombination mit einem Snack bestellte. Das war die gängige Praxis in diesen Bars, die dafür nicht mit der Größe der Tapas geizten.

Neben meinem immer noch dampfenden Reis stand nun auch Monas Bestellung.

„Die haben heute Krabbencocktail?“, fragte ich mit einem Blick auf ihren Teller.

„Willst du?“

„Nö, geht schon.“

Ich nahm die kleine Gabel auf und probierte meinen Tapa.

„Der Reis ist heute echt lecker. Heiß und noch mit ein wenig Biss.“

Meine Freundin ließ sich ihren Cocktail schmecken.

„Wir können ja noch einen zweiten…“, begann meine Freundin. „Ich meine ja nur, wenn du auch einen von denen hier willst.“

Sie hob ihren Löffel, auf dem eine fette Krabbe in Mayonnaise getränkt thronte.

„Wolltest du nicht sparen?“, fragte ich, obwohl ich dem Gedanken, so eine Portion Mayo-Krabben als zweiten Gang zu verspeisen, nicht gänzlich abgeneigt war.

Mona ignorierte mich. Wahrscheinlich war es der Lärmpegel. Erst nachdem sie ihren Tapa fast aufgegessen hatte, erhielt ich ihre Aufmerksamkeit zurück.

„Okay, was stellst du dir denn so als zweites Kostüm vor? Ich meine, unter dem Aspekt, dass wir Frauen sind und die Auswahl da nicht so groß ist. Oder wie siehst du das?“

„Genauso“, sagte ich knapp und schob mir die letzte volle Gabel Reis in den Mund. Kauend fuhr ich fort: „Wir sollten uns etwas ausdenken, das zur Jahreszeit passt. Ein Weihnachtsengel vielleicht“, war meine erste Idee.

„Ein Engel? Damit ein Engel Geld verdient, muss er echt beeindruckende Flügel haben. Erinnerst du dich an den in Zaragoza? Der hatte echte Federn und die Flügel reichten fast bis zum Boden. Der war klasse!“

Nur zu gut erinnerte ich mich an ihn. Wir hatten schon einige Engel auf der Straße gesehen. Die meisten von denen traten mit Flügeln aus Plastik auf, die man für ein paar Euro in Kostüm­geschäften kaufen konnte. Der in Zaragoza war tatsächlich eine Ausnahme gewesen. An seinem Niveau mussten wir uns orientieren, wenn wir nicht in der Masse untergehen wollten.

„Für solche Flügel brauchen wir mehr Zeit“, sagte ich. „Die können wir später mal bauen.“

Mona nippte am Wein.

„Okay, das mit den Flügeln kriegen wir nicht so schnell hin. Was passt denn noch zu Weihnachten?“, fragte ich in den Raum.

Ich spürte, dass Mona immer noch nicht begeistert von der Idee war, alleine zu arbeiten. Auch ich würde mich erst einmal umstellen müssen. Aber trotz all der Ängste, die in mir schlummerten, machte die Entwicklung einer neuen Figur Spaß.

„Das Christkind?“, fragte Mona mit dem leeren Glas Wein in der Hand.

„Das gibt es in Spanien nicht. Die haben hier die Heiligen Drei Könige, die die Geschenke bringen“, erklärte ich und nippte an meinem Glas.

„Na ja, ein König wäre vielleicht gut, aber das können wir nicht machen.“

Ich blickte auf den Tresen vor mir.

„Ein König?“

Mona erkannte den Subtext in meiner Stimme.

„Karen, das nimmt dir keiner ab. Dafür bist du zu klein und auch zu schmal um die Schultern. Und die Hüften sind zu breit.“

„Aber die Männer, die als Blumenfrauen arbeiten…“, erklärte ich gerade, als mir Mona ins Wort fiel.

„Die sind hässlich!“

„Nicht alle“, sagte ich leise, aber offenbar nicht leise genug, da Monas darauf folgender Blick alles andere als Wohlwollen zum Ausdruck brachte.

„Du willst ehrlich einen König machen?“, fragte meine Freundin nach einer längeren Pause.

„Ich weiß nicht. Aber ich will wenigstens darüber nachdenken. Die Spanier lieben die Heiligen Drei Könige. In jedem Kaufhaus gibt es gebuchte Könige in der Adventszeit. Es ist keine Statue für das ganze Jahr, aber für die Weihnachtssaison. Ich finde die Idee gar nicht so schlecht. Das Kostüm wird garantiert nicht teuer und lässt sich schnell bauen.“

Mona sah mich skeptisch an.

„Du siehst nicht sehr männlich aus“, sagte sie.

„Stell dir mich mit einem Bart vor.“

Ich grinste.

„Und deine Hüften?“, fragte Mona.

„Ich könnte doch einen langen Umhang tragen, der nur vorne ein wenig offen ist. Und für die Schultern gibt es Polster.“

„Und wenn die Kinder mit dir sprechen wollen? Vielleicht möchten sie dir ihre Wünsche mitteilen? Kannst du so tief sprechen?“, fragte meine Freundin, die bei dem Versuch, ihre Stimme zu verstellen, eher wie Kermit aus der Muppet Show klang als nach einem König.

„Statuen reden nicht!“, sagte ich entschlossen. „Warum sollte das beim König anders sein? Außerdem steht der auf einem hohen Podest, mindestens einen Meter hoch. Das macht mich viel größer. Kinder werden mich garantiert nicht ansprechen. Und er wird golden. Oder bronzefarben?“

Ich überlegte kurz.

„Gold? Doch. Er wird golden!“

„Und woher bekommst du den Umhang?“, fragte Mona, während sie versuchte, mit einem der Kellner Blickkontakt herzustellen.

„Den nähe ich selbst. Die anderen Sachen kriegen wir beim Kostümbedarf. Genau wie die goldene Schminke.“

Meine Freundin orderte zwei weitere Tintos sowie zwei Krab­ben­cocktails. Ich sagte nichts dazu. Wenn ich das Geld für das Kostüm ausgeben wollte, dann sollten die Tapas auch drin sein.

„Was sagst du?“, fragte ich Mona.

„Wenn du meinst. Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollten wir getrennt arbeiten.“

In ihren Augen erkannte ich nach wie vor Zweifel. Aber sie würde schon noch einsehen, dass es an der Zeit war, alleine zu arbeiten. Ich war mir sicher: Nichts von dem, wovor wir Angst hatten, würde sich in der Realität erfüllen. Das war meistens so, wenn man die Komfortzone verließ, um zu neuen Ufern aufzubrechen.

„Ich bemühe mich, dass das Kostüm nicht zu teuer wird“, versprach ich und versuchte, meiner Freundin damit wenigstens eine Angst zu nehmen.

„Auf den König also“, sagte meine Freundin und erhob das zweite Glas Rotwein, das wie durch Zauberhand inzwischen mit den Krabbencocktails vor uns aufgetaucht war.

„Ja, auf den König!“, sagte ich und stieß mit meiner Freundin auf unser neues Projekt an.


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